Wer viel fragt
Leander hatte Joshua entdeckt
und als den Sohn eines reichen Mannes identifiziert. Er hatte sich mit dem
Jungen, der so gar nicht dem Bild des typischen Soldaten entsprach,
angefreundet. Hatte sich wahrscheinlich mordsmäßig angestrengt,
um sich mit ihm anzufreunden. Und als er starb, hatte Leander, statt
dieses Freundschaftspotential ebenfalls sterben zu lassen, das Fundament für
sein Erscheinen in Indianapolis gelegt, das Fundament, auf dem er sich später
seinen Platz in der Welt der Grahams erbaute.
»Ausbildungspläne.«
Hatte er gewußt, daß Joshua eine Schwester hatte? Hatte er
beschlossen, sie zu umwerben, während er darüber nachdachte, wie
Joshuas Tod sich auf seine Aussichten auswirken würde?
Dies war eine kleine zusätzliche
Facette von Leander Crystal, dem Ehemann mit der »Liebesheirat«.
Vielleicht hatte er sich doch geändert, nachdem er als ein Mann ohne
Furcht vor dem Tod gekämpft hatte. War zu dem Mann mit dem großen
Gesamtplan geworden. Vielleicht hatte er gelernt, das Leben zu lieben,
solange er noch am Leben war.
Er war einen weiten Weg
gegangen.
Ich hielt inne, um mir
nachzuschenken, und sah mir wieder Joshis Unterlagen an. Ich sah mir noch
einmal den Namen des echten Zeugen an. Dr. Henry Chivian.
Ich konsultierte meine
Notizen und fand, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Da stand es: Dr.
Henry Chivian, der Mann, der zehn Jahre später in fünftausend
Meilen Entfernung Estes Grahams Totenschein ausgestellt hatte.
Schon wieder eine Ironie des
Schicksals. Ich schwelgte abermals in Bourbon und Ironie. Und nach einer
Weile nur noch in Bourbon.
Der Samstagabend ist bei mir
nicht der beste Abend der Woche.
Ich blieb noch lange genug in
den Morgen hinein bei Bewußtsein, um die Pacers im Fernsehen gegen
die Utah Stars verlieren zu sehen. Die Übertragung war nicht der
einzige Grund, aus dem ich den Sonntagmorgen verschlief.
Den Nachmittag verbrachte ich
mit meiner Flamme und deren Tochter.
28
Der Montagmorgen brachte neue
Geschäfte. Ein Neun-UhrAnruf mit der Nachfrage, ob ich ein paar
Vorladungen überbringen könne. Aus irgendeinem Grund sagte ich
ja, und um zehn Uhr trabte ich los.
Wahrscheinlich versuchte ich,
für eine Weile wegzukommen.
Klar, ich beschäftigte
mich immer noch mit den Crystals und den Grahams, aber ich war nicht glücklich
darüber.
Im wesentlichen deshalb, weil
die Strömung mich von den Fünfzigtausend wegtrieb statt ihnen in
die Arme. Ich war viel glücklicher, wenn es danach aussah, als würde
ich das Geld nehmen. Vielleicht nahm ich den Job mit den Vorladungen an,
damit ich nicht dem immer wieder aufwallenden Drang erliegen konnte, den
Scheck einzulösen.
Wie konnte ich bei der Bank
vorbeischauen, wenn ich mit dem Überbringen von Vorladungen beschäftigt
war? Was war wohl mit mir los, daß ich nicht einfach das Geld nahm,
und dann nichts wie weg?
Wahrscheinlich lag es daran,
daß ich früher mal selbst ein wenig Geld hatte. So wahnsinnig
toll war das ja auch wieder nicht gewesen. Und vielleicht eröffnete
der Gedanke, wieder zu Geld zu kommen, die geistige Möglichkeit, auch
ein paar andere Dinge zurückzubekommen. Beispielsweise meine Tochter.
Um eins gestattete ich mir
eine Mittagspause. Zur Kuchenzeit kam mir die Erkenntnis, daß das,
was ein paar Nächte zuvor so seltsam erschienen war, überhaupt
nicht seltsam war. Dr. Chivian. Wirklich seltsam wäre es gewesen,
wenn seine Unterschrift auf einem Totenschein in Frankreich und einem in
Indianapolis innerhalb einer Woche datiert gewesen wäre.
Aber zehn Jahre? Das ist viel
Zeit. Und das Puzzle fügte sich zusammen.
Angenommen, Crystal kannte
Chivian in Frankreich, so wie er Joshua kannte. Angenommen, Crystal und
Chivian kamen gut miteinander aus. Angenommen, Leander fand heraus oder
vermutete zumindest, daß er steril war, und nahm wegen der Tests
Kontakt zu Chivian auf, weil er darauf zählen konnte, daß
Chivian die Ergebnisse für sich behalten würde. Das paßte
zu dem abrupten Ärztewechsel, der in Fleurs und Leanders Krankenakten
verzeichnet war. So kam Chivian wieder ins Spiel und blieb dann als ihr
Hausarzt. Und er war zufällig auch in der Nähe, als Estes seinen
letzten Atemzug tat.
Nicht schlecht für eine
Vermutung.
Nein, keine Vermutung; eine
Schlußfolgerung. Spitzenmäßig.
Nachdem ich für mein
Futter bezahlt hatte, suchte ich im
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