Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
Vom Netzwerk:
unerledigt zu lassen, einen entscheidenden Termin unwiederbringlich zu versäumen. Aber welche Aufgabe? Welchen Termin?
    Das Schiff legte in New York an, fahrplanmäßig. Mildred ging von Bord. Sie fuhr zu ihrer Mutter. Das Haus roch nach Apfelkuchen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Die erste Woche versuchte Mildred zu genießen. Sie versuchte heimzukehren, in das kleine Häuschen unter dem weiten amerikanischen Himmel: Aber das Gefühl der Dringlichkeit wuchs, trieb sie, scheuchte sie vor sich her, als zählte von nun an jede Minute,sie nahm Kontakt zur Universität von Wisconsin auf. Arvids Professor John R. Commons war natürlich längst in Florida im Ruhestand. Ein paar der Leute von früher waren aber noch da.
    Man erinnerte sich an sie. Natürlich erinnerte man sich an sie: an die junge Mildred Fish, leuchtend im Schmuck ihres hellblonden Haars, und auch an ihren Freund, den Rockefeller-Stipendiaten Dr. Arvid Harnack. Man bedauerte aufrichtig, dass man für Mildred so wenig tun konnte. Immerhin half ihr eine der Mitarbeiterinnen im Sekretariat, Kontakte zu Organisationen zu knüpfen, die an ihren Vorträgen interessiert sein könnten: »Rezeption amerikanischer Gegenwartsliteratur im Deutschland von heute« , den ersten Vortrag hielt sie für den Madison Book Club. Als Veranstaltungsort hatte man ausgerechnet den Konferenzsaal des Green Lake Hotel ausgewählt, in dem Mildred vor elf Jahren ihre Hochzeit gefeiert hatte. Damals war es August gewesen. Die Wälder und Seen Wisconsins lagen in der Hochsommersonne. Ein großes Fest hatten sie sich nicht leisten können, aber sie hatten doch die engste Familie, einige nahe Freunde eingeladen. Es war alles schlicht und sehr geschmackvoll gewesen: die Speisen, die Tischdekoration in Hellblau und Weiß, die Speisekarten, die Mildred alle mit der Hand geschrieben hatte. Sie besaß noch ein Exemplar. Es lag in der Nachttischschublade, in ihrer Berliner Wohnung, auf ihrer Seite des Ehebetts, in dem nun Arvid allein schlief. Mildred saß am Kamin in der Lobby des Green Lake Hotel, allein.
    Es war Winter. Sie sah die Liste der Gäste durch, die zu ihrem Vortrag erwartet wurden. Entsetzen überkam sie. Nicht nur Mitglieder der gastgebenden Organisation, Studenten und Professoren hatten ihr Erscheinen angekündigt, sondern auch Mitglieder von Fritz Kuhns Deutsch-Amerikanischem Bund: ein berüchtigter Zusammenschluss von Amerikanern deutscher Herkunft, von Nazi-Sympathisanten, die über Kontaktezum Regime verfügten. Sie konnte also auch in Amerika nicht frei sprechen.
    Gerade nicht in Amerika. Nicht hier, wo sie keinen mehr kannte, sich auch unter den wenigen Bekannten von früher niemandes mehr sicher sein konnte, wie konnte sie wissen, was ihre Gesprächspartner wirklich dachten? Wie konnte sie sicher sein, dass man sie nicht überwachte, dass keine Spione der Nazis mithörten?
    Nirgendwo konnte man frei sprechen, nirgendwo sich unter den Seinen wähnen, nirgends gab es Freiheit, Sicherheit vor dem Geheimdienst. Natürlich, solange sie hier in Amerika war, würde man ihr nichts tun. Aber Arvid war in Deutschland. Er war die Geisel. Und was also durfte sie bei ihren Vorträgen sagen?
    Sie ging ihr Manuskript durch, in bebender Eile. Sie ging es noch einmal durch. Noch einmal. Sie strich. Und strich. Sie präsentierte die Ruine im Konferenzsaal des Green Lake Hotel. Dem Vortrag war alle Kongruenz abhanden gekommen. Der Rahmen fehlte, der Gesamtzusammenhang, die Wände des Gebäudes. Die Details hingen im Raum wie Stromkabel nach einem Desaster, wie geschwärzte Dachlatten nach einem Brand. Hinterher kam einer ihrer alten Professoren auf sie zu. Er drückte ihr die Hände, hielt sich bedeckt. Sie ließ es ihm nicht durchgehen. Sie forderte eine Reaktion, drang in ihn, erhitzte sich, erklärte, er sagte: »Ah. Ich verstehe. Aber bitte, warum haben Sie das nicht gesagt? Das hätten Sie doch nur sagen müssen. Dann wäre es ein guter Vortrag geworden statt – «
    Er ließ es dankenswerterweise offen, was der Vortrag geworden war. Und natürlich verdiente sie mit dergleichen ohnehin zu wenig. Sie war auf ihre Familie angewiesen, auf Freunde. Pflichtschuldigst nahm man sie auf. Man lud sie zum Essen ein, man kaufte ihr ein paar neue Strümpfe. Konnte sievielleicht etwas übersetzen? Vielleicht konnte sie journalistisch tätig werden, so wie in Deutschland für die ›Dame‹? Sie fragte bei einigen Zeitungen an, bei Verlagen.
    Man fragte sie, was sie hier eigentlich tat. Warum war

Weitere Kostenlose Bücher