Wer wir sind
Vormittag haben sie bereits das Bergtheater und den Sachsenwall besichtigt, und die Walpurgishalle natürlich, mit den Gemälden nach Goethe. Mildred murmelt lautlos vor sich hin,
Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunkeln Tannen ragen,
Bäche rauschen, Vögel singen,
Und die stolzen Wolken jagen –
Dies ist freilich nicht von Goethe, sondern von Heine. Es ist aus Heinrich Heines ›Harzreise‹: aus dem Text, der Mildred überhaupt erst auf die Idee zu dieser Wanderung gebracht hat. Natürlich ist Heine verboten. Aber für die Harnacks ist das kein Grund, Heines Werke aus der Bibliothek zu entfernen.
Goldene Sonnenlichter durchs dichte Tannengrün … schwellende Moosbänke, hellgrüne Sammetpolster. Liebliche Kühle, Wasser unter den Steinen, silberhell … die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen, das ruhige Herzklopfen des Berges …
Mildreds Nichte Jane spricht inzwischen schon ziemlich gut Deutsch. Ihr R klingt freilich noch immer amerikanisch. Sie tut sich noch immer schwer mit Wörtern wie »träumerisch« oder »Quellengemurmel«. Aber sie hat Heines Ersteigung des Brockens mit klar erkennbarem Textverständnis vorgetragen. Mildred bekam mit einem Mal heftige Sehnsucht nach der Natur, eine überwältigende Lust zu entfliehen, Berlin hinter sich zu lassen, ins Freie zu gelangen. Und warum nicht? Warumsollten sie nicht dem deutschen Dichter folgen, tief hinein in den deutschen Wald? Sie würden mit den einfachsten Mitteln reisen. Sie würden im Wesentlichen zu Fuß gehen, wie weiland Goethe und Heine, sie würden in ländlichen Herbergen übernachten, Jane und Charmetta waren von der Idee begeistert. Und hatten sie keine Befürchtungen, so allein zu reisen, drei Frauen ohne männlichen Schutz?
Aber sie haben ja einen Mann dabei: den verbrannten Dichter, den sie sich zum Begleiter erkoren haben und dessen Verse man ohne Gefahr nur noch lesen kann, wenn man sie im Herzen trägt. Mildred denkt das auf Englisch,
I know Heine by heart.
Sie denkt nur noch selten in ihrer Muttersprache. Sie träumt meist nicht einmal mehr auf Englisch, nach beinahe einem Jahrzehnt in Deutschland. Dennoch, manchmal ist der englische Ausdruck einfach schöner,
Ich kann Heine auswendig – I know him by heart.
Natürlich nicht den ganzen Heine. Aber seine Beschreibung der Brockenersteigung hat sie jedenfalls vor Beginn der Wanderung in ihr Reisetagebuch übertragen,
Man kann sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksbergsgeschichten zu denken, und besonders an die große, mystische, deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust. Mir war immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinaufklettere, und jemand humoristisch Atem schöpfe.
Es ist eine Kette. Die einzelnen Glieder greifen ineinander. Es steht jedem frei, sich anzuhängen, die Kette zu verlängern, selbst ein Glied in ihr zu werden, Heine ist auf Goethes Spuren gewandelt. Und Mildred, Jane und Charmetta sind nun wiederum Heine gefolgt, bei ihrer Ersteigung des Brocken,
Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine.
Auch die drei Frauen fanden den Aufstieg unerwartet anstrengend.Auch für sie hüllte sich der Gipfel in dichten Nebel. Zum Glück hatten sie Zimmer im Brockenhotel reserviert, wobei die wunderlich zusammengesetzte fremde Gesellschaft , die Heine dort oben vorgefunden hatte, in ihrem Fall aus einer Ladung angetrunkener Kraft-durch-Freude-Urlauber und einer Gruppe Hitlerjungen bestand, die vor dem Hotel zelteten. Mildred und ihre Freundinnen aßen ein leichtes Abendbrot. Danach hatten sie eigentlich Goethes »Walpurgisnacht« aus dem ›Faust‹ lesen wollen, aber daran war unter den gegebenen Umständen nicht zu denken. Das Zimmer war kalt und ungemütlich. Draußen nieselte Regen aus einem trüben Abendhimmel. In der Gaststube sangen die KdF-ler, so dass ihnen schließlich nichts anderes mehr übrigblieb, als zeitig zu Bett zu gehen. Auch am nächsten Morgen klarte es nicht auf. Sie fuhren mit der Schmalspur-Eisenbahn wieder hinunter, ganz unsportlich und schweigsam, Mildred war es, als hätte sie persönlich versagt.
Es kam ihr vor, als wäre alles ihre Schuld. Es ist ein alter Fehler, von dem sie sich nicht freimachen kann: Mildred fühlt sich häufig für die Stimmung anderer verantwortlich. Sie fühlt sich verantwortlich nicht nur für das, was sie beeinflussen oder gestalten kann, sondern auch für Dinge, die völlig außerhalb ihrer Macht liegen: das Wetter, die Qualität eines Gaststättenessens, die Pünktlichkeit
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