Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
Vom Netzwerk:
Sommermorgen im Jahre 1926. Nach Mildred Fish und Arvid Harnack, zusammen am Picnic Point, am Ufer des Lake Mendota, die Luft war lau. Es war still, bis auf ein paar einzelne Vögel. Er sah sie an. Sie sahen einander an: Jetzt, jetzt, jetzt küsste er sie. Das Glück war ein heißer Strudel,
    Heirate mich!
    Ja! Ja, ja, ich heirate dich.
    Gab es eine andere Antwort? Niemals auf Erden. Sie stand am Picnic Point. Es war Winter: Februar 1937. Das Wasser war gefroren. Drüben in der Ferne sah sie die blaue Linie derBäume. Was tat sie hier? Arvid wartete nicht am Picnic Point auf sie, in irgendeiner Vergangenheit. Er wartete zu Hause, in ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin. Er saß am Tisch und aß, von seinem einsamen Teller. Er schlug abends die Decke des leeren Betts zurück,
    I have somewhere surely lived a life of joy with you,
    I ate with you, and slept with you –
    Vielleicht stellte er in der Dämmerung eine Kerze auf das Schränkchen unter dem großen Ölbild von den Wanderdünen auf der Kurischen Nehrung, das seine Mutter gemalt hatte. Vielleicht wanderte er dann allein in der Wohnung herum. Mildred glaubte seine einsamen Schritte zu hören, sein Hüsteln, seine Stimme, die zu einem Besucher sprach, der dann wieder ging und ihn allein ließ. Mildred hatte das nicht gewusst. Sie hatte gedacht, man könnte fortgehen und zurückkehren. Aber so war es nicht. Der Weg führte nur in eine Richtung, voran. Nichts konnte zurückgenommen werden. Hinter keinen einmal überschrittenen Punkt konnte man zurückgehen. Sie war fortgegangen, und nun war sie eine Fremde in ihrem eigenen Land.
    Es war noch schlimmer. Denn als Fremde hätte sie sich wohl eingewöhnen, sie hätte im Laufe der Zeit hier heimisch werden können. Aber Mildred besaß schon nicht mehr, was eine Fremde erst noch zu erringen hoffte. Amerika öffnete sich ihr nicht mehr. Es ließ sie nicht ein. Die Lücke, die ihr Fortgehen gerissen hatte, hatte sich hinter ihr geschlossen. Für Mildred war kein Schlupfloch übrig geblieben.
    Aber sie hat eine Trophäe errungen. Sie hat der Heimat einen Menschen entrissen, sie hat jemanden auf ihre Seite gezogen: Jane Esch, Mildreds Nichte, die Tochter ihrer ältesten Schwester Harriette. Jane ist einundzwanzig. Sie hat die Highschoolabgeschlossen, nun besucht sie ihre Tante Mili. Und deutet Janes Nachname nicht darauf hin, dass ihr Vater deutsche Wurzeln hatte? Ist Jane in Deutschland also gar nicht im Ausland, sondern sozusagen endlich nach Hause zurückgekehrt?
    Jane liebt deutsches Bier und deutschen Schinken. Mildred zeigt der Nichte deutsche Burgen, deutsche Dörfer, noch einmal eröffnet sich Deutschland für Mildred. Noch einmal spiegelt sich auf den Zügen ihrer Nichte ihre eigene anfängliche Begeisterung. Noch einmal findet sie das Land, das sie vorgefunden hat, als sie einst von Bord des Schiffs ging, um mit Arvid Harnack zu leben, dies kann selbst Hitler nicht zerstören.
    Dies wird bleiben und Hitler überdauern: der deutsche Wald, die Hügel, die Wiesen. Die deutschen Burgen, Schlösser und Dome. Die kleinen Städtchen und Dörfer mit ihrem Fachwerk, mit ihren Stadtmauern und Kirchlein und kleinen Gasthäusern. Wissen die Deutschen überhaupt, wie schön ihr Land ist? Hitler kann sich hier unmöglich halten, nicht im Land Goethes, Heines und Thomas Manns.
    »Ja gut«, hat Charmetta Riebe vom American Women’s Club gestern Abend gesagt. »Mag ja sein. Aber Heines Werke haben sie verbrannt. Und Thomas Mann lebt in Amerika. Die deutschen Dichter sind entweder tot oder längst bei uns. Und den Deutschen sind sie völlig egal.«
    Sie sind von Thale hier hinaufgestiegen, Mildred, ihre Nichte Jane und Charmetta. Sie rasten im Schatten einiger Bäume am Rande eines weiten Plateaus. Dieses Plateau wird ebenso Hexentanzplatz genannt wie das auf dem Brocken, dessen schroffe Hänge sie auf der anderen Seite des Tals liegen sehen. Mildred hat Freude daran, dass sie solche Wörter kennt, Wörter, die selbst im aktiven Wortschatz der Deutschen selten vorkommen: schroff, blümerant, Gunst, Liebreiz. Es istein stiller Spätsommertag, schwer und süß wie Pflaumenmus. Sie haben ihr Picknick schon beendet, ein einfaches Mahl aus dunklem Brot, Käse und kaltem Tee, das sie in ihren Rucksäcken mitgebracht haben. Wenn man vom Brocken absieht, ist ihre Fahrt bislang vom Wettergott begünstigt gewesen: So hat Mildred es gestern ausgedrückt. Sie sind von Goslar über den Brocken und das Bodetal unterwegs nach Quedlinburg. Heute

Weitere Kostenlose Bücher