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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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sie nicht in Deutschland bei ihrem Ehemann, wo sie hingehörte? Warum war sie ganz allein unterwegs, ohne ihn? Warum war sie in Amerika? Was wollte sie hier? War sie womöglich eine Spionin der Nazis?
    Das fragte der Chefredakteur des ›Wisconsin Sentinel‹.
    Aber bitte, er wollte keineswegs irgendwelche Empfindlichkeiten berühren. Er musste immerhin fragen dürfen: War sie bereit, an seinem Blatt einen offenen Journalismus zu pflegen? Glaubte sie an das amerikanische Modell, oder war sie drüben umgekrempelt worden? Würde sie womöglich sein Blatt verwenden, um propagandistisch für das deutsche System zu arbeiten?
    Sie konnte das natürlich nicht beantworten. Sie konnte dazu überhaupt nichts sagen, nicht einmal, dass sie nichts dazu sagen konnte, sie floh aus dem Büro des ›Sentinel‹. Man starrte ihr verständnislos nach. Was hatte sie denn? Worüber erregte sie sich so? Litt sie unter Verfolgungswahn? Hatte sie gar kein Zutrauen mehr?
    Ich bitte dich, Mildred, rede einfach drauflos! Rede doch frei von der Leber weg, hier sind wir unter uns! Hier bist du nicht bei deinen deutschen Nazis. Hier bist du in Amerika, nicht in Berlin.
    Sie schnappte nach Luft: deine deutschen Nazis. Sie machte den Mund auf, schloss ihn wieder, was sollte man sagen? Wo sollte man ansetzen, wie einer solchen Dummheit begegnen? Die Leute hier waren dumm. Sie begriffen nichts. Das lag an der Freiheit. Freiheit und Sicherheit hatten sie verblöden lassen. Die Demokratie, die Selbstverständlichkeit ihres Glückshatten sie arrogant und stumpf gemacht, Mildred wusste ja genau, was sie von ihr hören wollten.
    Ich hasse die Nazis. Arvid und ich, wir hassen die Nazis. Wir wünschen uns Hitlers Tod! Wir wünschen uns die Befreiung, das amerikanische Modell.
    Das waren die Sätze, die sie von ihr erwarteten, während Arvid drüben festsaß.
    Und saß er nicht im Reichswirtschaftsministerium? Er arbeitete doch für den deutschen Staat. Das war schließlich nicht nötig. Er unterstützte mit seiner Arbeit das Hitler-Regime, freiwillig, ohne äußeren Zwang, konnte er nicht etwas Anständiges tun?
    Was denn, verhungern?
    Mildred war elend vor Wut und Demütigung. Sie war beschmutzt. Sie war ihnen nicht gewachsen, diesen Glücklichen, die da vor ihr standen in ihrer Unschuld, ihrer weißen Reinheit, wie konnten sie verstehen, wo Mildred lebte? Mildred selbst verstand es ja erst jetzt. Wie konnten sie verstehen, dass ein jeder sich zwangsläufig besudelte, der in einem solchen Staat lebte? Dass dieser Staat alle Lebensbereiche durchdrang und durchseuchte, dass er nichts unbefleckt ließ, dass man nichts vor ihm retten konnte, weil kein Teil des Lebens von seinem Einfluss frei war? Sie konnte nicht darüber reden. Sie konnte es nicht wagen: Also musste sie schweigen.
    Man fand sie reserviert. Man fand sie arrogant, worauf bildete sie sich eigentlich so viel ein? Sie hatte verlernt, leichthin zu plaudern. Man saß um den Tisch und plauderte. Man saß am Kamin und plauderte, über dieses und jenes, ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Das, was sie nicht sagen konnte, schob sich vor alles andere. Das Ungesagte wuchs, wurde sperrig, verstellte ihr jeden gedanklichen Raum wie riesige Kulissenteile eine Bühne, sie hatte nichts Freies, Offenes mehr.Man begann zu munkeln, sie könnte selbst eine Nationalsozialistin sein.
    Wie sonst ließ sich denn ihr Verhalten erklären? Sie war verdruckst. Verknöchert. Wenn sie einmal etwas sagte, klang ihr ihre eigene Stimme schrill im Ohr, wo war nur die alte Mildred hingekommen? Die junge, schwebend leichte Mildred mit dem leuchtenden Haar, dem weißen Spitzenkragen, aus dem ihr schlanker Hals, ihr Kopf hervorwuchsen wie auf einem altertümlichen Frauenporträt: Diese Mildred war ein Weidenzweig gewesen. Nun war sie ein Stock. Ein hölzerner Stock, unbeugsam. Rücksichtslos. Ausschließlich auf ihre eigenen Belange konzentriert: Das warf ihr die Schwester vor.
    Du bist wirklich eine Deutsche geworden.
    Das sagte die Mutter.
    Sie meinte es scherzhaft. Es traf Mildred tief. Es war wahr. Amerika war nicht mehr ihr Land. Sie erkannte nichts wieder, weil alles genauso geblieben war wie früher. Amerika erschien ihr unwirklich, ein Reich vager, zu nichts verpflichtender Gutwilligkeit. Es war viel unwirklicher als das ferne Land, das sie verlassen hatte: Deutschland, in seinen grausamen Wirren. In Deutschland hatte sie Heimweh nach Amerika gehabt. Jetzt, hier in Amerika, hatte sie Heimweh nach einem

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