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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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öffentlicher Verkehrsmittel, Mildred kann sich für eine Verspätung der Straßenbahn entschuldigen, als wäre sie von Beruf Schaffnerin.
    Es tut mir wirklich leid, dass das jetzt passieren muss. Es tut mir leid, dass wir warten müssen, aber die Bahn kommt sicher gleich, ich verstehe das gar nicht. Sie sind sonst immer so pünktlich. Vielleicht haben sie eine Panne gehabt. Vielleicht gab es einen Unfall auf der Strecke.
    Mildred möchte immer, dass alle froh sind. Sie wünschtsich so sehr, dass diese Wanderung schön werden soll, bedeutsam, erinnerungswürdig vor allem für Jane, sie möchte schrecklich gern, dass Jane ein positives Bild von Deutschland mit nach Amerika zurückbringt. Ein positives Bild von Mildred in Deutschland. Mildred hat Arvid und die ganze Familie gebeten, Jane gegenüber von allen Gräueln zu schweigen. Es wäre Mildred nicht angenehm, wenn Jane dergleichen Erzählungen mit nach Amerika trüge. Es hat doch keinen Sinn, dass noch mehr Horrorgeschichten in der Familie kursieren. Mildred möchte, dass Jane sich gern an Deutschland erinnert. Sie möchte, dass Jane zu Hause erzählt, was für ein anregendes, lohnendes, erfülltes Leben Tante Mildred trotz allem führt, in dem fremden Land.
    Jane und Charmetta kramen in ihren Rucksäcken nach der Taschenbuchausgabe des ›Faust‹. Sie wollen die Lesung der ›Walpurgisnacht‹ nachholen, hier auf diesem anderen Hexentanzplatz. Mildred hat ihr Buch bereits aufgeschlagen. Sie lässt ihren Blick in die Ferne schweifen, hinaus in die klare Weite, über die Tannen, über die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke, von hier oben sieht man die verhassten Fahnen nicht flattern. Man hört die verhassten Stimmen nicht grölen. Dies ist das Herz Deutschlands, das wahre Deutschland, das Mildred liebt.
    »Ich bin so froh, dass ihr diese Wanderung vorgeschlagen habt«, sagt Jane. Sie streckt sich, sie legt den Kopf in den Nacken. »Ich bin wirklich froh, dass ich mitkommen konnte, bevor ich abreise.«
    Und warum muss Jane überhaupt abreisen? Das würde Mildred gern wissen. Jane öffnet vorsichtig ihr Buch. Sie hat es mit einem Gummiband umwickelt, damit all die Andenken, die sie zwischen seinen Seiten sammelt, nicht herausfallen: Theaterbilletts, Opernprogramme, ein vierblättriges Kleeblattaus dem Berliner Tiergarten. Und tatsächlich wird Jane Esch auch nicht nach Amerika zurückfahren.
    Kurz vor seiner Emigration in die USA wird Max Delbrück noch rasch seinen Freund Otto Donner mit Arvid Harnack und dessen Familie bekanntmachen, und im selben Jahr wird Jane Esch Otto Donner heiraten. Harriette Esch wird ihrer Schwester Mildred das niemals verzeihen. Jane Donner aber wird erst ganz am Ende zurück nach Amerika finden, erst 1945, wenn alles vorüber ist.
    Den ältesten ihrer drei Söhne wird sie zu diesem Zeitpunkt bereits an Meningitis verloren haben. Mit den beiden anderen wird sie sich von Varchentin in Mecklenburg, wohin sie vor den Bomben evakuiert worden sind, nach Westen durchschlagen. Sie wird in die Vereinigten Staaten zurückkehren, dort Psychotherapeutin werden, sich von Otto Donner scheiden lassen, Vincent Sweeney heiraten und mit ihm das Center for the Study of Human Systems gründen. Und 1994 wird sie bei einem Bootsunfall in der Chesapeake Bay ertrinken, zusammen mit ihrem jüngeren Sohn. Erst Tage später wird man ihre Körper finden, im Schilf an der Mündung des Choptank River, schwerelos im grünlichen Wasser treibend.
    Jane also bleibt in Deutschland. Aber ansonsten wird es leerer und leerer um Mildred. Manchmal kommt Mildred sich vor wie in einem Film. In diesem Film sieht man Berlin von oben. Man sieht, wie die Stadt mit magnetischer Kraft alle und jeden zu sich heranzieht, dann läuft der Film in größter Geschwindigkeit rückwärts, und alles stiebt wieder auseinander. Die deutschen Schriftsteller und Wissenschaftler sind gleich 1933 geflohen. Dann sind die Amerikaner abgewandert, angeführt von den jüdischen Medizinstudenten, die in Deutschland dem konfessionellen Numerus clausus der amerikanischen Universitätenhatten entgehen wollen. Es wird leerer um Mildred. Es wird leerer in Deutschland.
    Mildred fährt nach Norwegen, um eine Reportage für die ›Dame‹ zu schreiben und heimlich nebenher die Ausreise des Lektors Max Tau vorzubereiten. Sie fährt nach Paris, wo sie die Gelegenheit nutzt, ihren amerikanischen Pass zu verlängern. Mildred hat Irving Stones van-Gogh-Biografie ›Lust for Life‹ übersetzt, dann ›Drums along

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