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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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natürlich aus Prinzip mit Schmutz. Aber der russischen traue ich auch nicht. Wir wissen jedenfalls nicht, was Bessonow getan und was er nicht getan hat. Vielleicht war er wirklich nichtzuverlässig, vielleicht hatte er zu enge Bande zu Deutschland. Außerdem ist es für uns egal. Ich glaube an die Vorzüge der Planwirtschaft, nicht an die des Stalinismus. Wenn ich hoffe, in den Russen Verbündete gegen Hitler zu finden, dann heißt das nicht, dass wir uns in Abhängigkeit von den Sowjets begeben oder ihr System imitieren sollten.«
    Aber Mildred muss immer wieder an Bessonow denken, auch an Boris Winogradow, der im Januar zurückgefahren ist und von dem seitdem niemand mehr etwas gehört hat. Sie muss an den Ausflug zu Fallada denken, mit Ledig-Rowohlt und Martha Dodd, an die Fahrt in Boris’ Cabrio durch den Frühlingsregen,
    Pea-nut Peanut Butter Jelly,
    Pea-nut Peanut Butter Jelly –
    Auch Martha Dodd ist nicht mehr da. Die Botschaftertochter ist mit ihrem Vater nach Amerika zurückgekehrt. Mildreds Kontakte zur amerikanischen, Arvids Kontakte zur sowjetischen Botschaft sind nun also abgebrochen. All das ist beendet. Sie haben nur noch das schwindende Häuflein der deutschen Freunde. Und nun gehen auch noch die Heberles.
    Rudolf Heberle hat mit seiner Frau Franziska von 1926 bis 1929 als Stipendiat der Rockefeller Foundation in Amerika geweilt. Dort haben sie sich mit den Harnacks angefreundet. Die Freundschaft hat sich in Deutschland weiter vertieft, so dass Mildred 1935 sogar Taufpatin der kleinen Antje Elisabeth geworden ist. Und nun ist Mildreds Patenkind schon drei Jahre alt, und die Heberles verlassen Deutschland.
    »Alles Gute, ihr Lieben.«
    »Alles alles Gute für euch, für euer neues Leben.«
    Mildred und Arvid stehen am Bahnsteig. Sie stehen an Gleis elf. Der Zug wird die Heberles nach Bremerhaven bringen. InBremerhaven wartet das Schiff: der große weiße Ozeandampfer, der sie nach Amerika bringen wird.
    »Wir denken an euch.«
    »Wir wünschen euch Glück.«
    Weiße Schwaden dampfen über den Bahnsteig. Es ist zugig. Die Heberles haben ihr Abteil schon bezogen, dann sind sie wieder ausgestiegen, um die Harnacks ein letztes Mal zu umarmen. Es birgt durchaus ein Risiko, hier zu stehen. Wer weiß, ob man beobachtet wird. Wer weiß, wem es auffällig scheinen könnte, dass ein Beamter des Wirtschaftsministeriums einen Emigranten verabschiedet.
    »Ihr werdet uns fehlen!«
    »Schreibt!«
    »Schreibt ihr auch!«
    Aber wozu? In den Briefen würde nichts stehen. In Zukunft werden sie versuchen, nicht mehr aneinander zu denken. Es ist ja nun einmal ein Abschied für immer, der Zug fährt an. Die Harnacks winken. Die Lokomotive verschwindet in Dampfschwaden, bevor sie endgültig die Halle verlassen hat, Arvid nimmt Mildreds Arm. Sie gehen den Bahnsteig entlang, dann durch die Bahnhofshalle. Sie gehen langsam. Sie halten sich sehr eng nebeneinander. Der Raum um sie ist leer, und er wird immer leerer, in dieser Leere sind Mildred und Arvid sehr sichtbar.
    Mildred möchte sich ducken. Sie hat manchmal Anfälle entsetzlicher Angst, wenn sie merkt, wie allein Arvid und sie aus der Leere aufragen, in den leeren Himmel hinein, und hätte sie nicht doch in Amerika bleiben sollen, im letzten Jahr?
    »Warum bist du nur wiedergekommen«, hat Arvid bei ihrer Rückkehr gesagt. »Du hättest drüben bleiben sollen. Du hättest nicht wiederkommen sollen.«
    Seine Stimme schwankte, kenterte. Er drückte Mildred ansich, umklammerte sie, hielt sie fest. Die Überfahrt nach Amerika war ein grauer Traum gewesen. Dort, wo Mildreds Herz hätte sein müssen, waren leere Gänge gewesen, hallende Korridore, die sie mit wachsender Unruhe zu durchstreifen begann, mit einer immer atemloseren Ungeduld, als zählte von nun an jede Minute, als liefe sie Gefahr, eine lebenswichtige Aufgabe unerledigt zu lassen, einen entscheidenden Termin zu versäumen. Dies ist die Aufgabe. Dies ist der Termin.
    Sie gehen jetzt die Linden entlang. In den Kronen der Bäume sind Arbeiter damit beschäftigt, Lautsprecher für irgendeine Großveranstaltung zu befestigen. Arvid und Mildred Harnack nähern sich dem Brandenburger Tor. Von irgendwo Trommeln: zwei langsame, drei schnellere Schläge. Aus den Lautsprechern dröhnt es. Plötzlich strömen von überall Menschen herbei. Arvid und Mildred halten sich eng beieinander. In die Leere, die sie umgibt, ergießen sich die Horden wie eine dreckige Flut in ein Bassin, das Rauschen der Menge wächst.
    Dann das

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