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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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die er gesetzt hatte, sind ihm nicht gefolgt. Sie sind fast alle in der Mutterpartei geblieben. 1933 ist Otto Strasser emigriert, und sein Bruder Gregor ist 1934 im Zuge der Ausschaltung der SA und der Ermordung Röhms von der SS umgebracht worden.
    Hans von Dohnanyi hat damals zusammen mit der zentralen Staatsanwaltschaft den Fall von Gregor Strassers Witweuntersucht, der die Lebensversicherung ihres Mannes nicht ausgezahlt worden war: Das Geheime Staatspolizeiamt hatte der Versicherung mitgeteilt, Strasser hätte Selbstmord begangen.
    Aber ist es nicht tatsächlich Selbstmord, sich bei der Führung des Reichs unbeliebt zu machen? Als persönlicher Referent des Reichsjustizministers Gürtner hat Hans von Dohnanyi die Folgen des Röhm-Putsches unmittelbar erlebt. Er hat den Minister zu Göring begleitet, er ist mit ihm zu Hitler nach Berchtesgaden geflogen. Hans stand daneben, als Gürtner das Gesetz unterschrieb, das die Verbrechen legitimierte: Die Morde seien zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe rechtens gewesen, eine präventive Maßnahme gegen einen unmittelbar bevorstehenden Putsch der SA unter Röhm.
    Das System etabliert sich. Seit dem Röhm-Putsch stabilisieren sich die Strukturen. Es besteht keine Hoffnung mehr auf ein schnelles Ende. Hans von Dohnanyi hat damit begonnen, ein Diensttagebuch zu führen.
    Das gehört ohnehin zu seinen administrativen Pflichten. Aber Hans führt es besonders akribisch. Er vermerkt jeden Rechtsbruch, der ihm bekannt wird, jede Häftlingsmisshandlung, jeden unterschlagenen Brief, jedes Päckchen, das nicht ins Konzentrationslager weitergeleitet wird.
    »Manchmal denke ich, man dürfte gar nicht mitmachen«, sagt Hans Dohnanyi zu seiner Frau Christel. »Aber was dann? Man muss doch seine Familie ernähren. Man muss doch in der Welt vorankommen, auch unter widrigen Bedingungen. Man hat sich seine Zeit nicht ausgesucht, aber nun muss man doch in ihr leben. Das Schlimme ist, dass ich keinen Grund sehe, warum sie sich nicht für immer und ewig an der Macht halten sollten. Wenn man nur hoffen dürfte, dies wären ein paar Jahrein der glühenden Esse, aus denen man geläutert hervorgeht, und dann beginnt das wahre Leben.«
    Hans von Dohnanyi ist oft nah daran, zu verzweifeln. In der Hast des Tages lässt sich vieles ertränken, aber schlimm ist es, wenn man einmal zu sich kommt und begreift, wie sinnlos alles ist, was man tut. Gestern hat er in seinem Tagebuch festgehalten, dass die der Abtreibung angeklagte jüdische Hausangestellte Ottilie Mansfeld freigesprochen worden ist.
    Abtreibung ist an sich mit der Höchststrafe bedroht. Aber Paragraph 218 des Strafgesetzbuches soll schließlich eine völkische Schutzbestimmung sein. Eine Jüdin kann sich im Sinne dieses Paragraphen also gar nicht schuldig machen,
    im Gegenteil würde ihre Bestrafung der völkischen Zweckbestimmung des Abtreibungsverbotes geradezu entgegenwirken.
    Hans war voll angeekelter Bewunderung. Das doppelt widerwärtige Urteil hat dem Mädchen das Leben gerettet. Wie müssen ihr die Gesichter ihrer Richter erschienen sein? Wie Tierfratzen? Wie schnatternde Dämonen?
    »Wir werden unser Leben in dieser Höhle verbringen, die sie für uns gegraben haben«, sagt Hans zu seiner Frau Christel. »Das heißt, man wird kein Leben gehabt haben. Man wird nie etwas Sinnvolles geleistet haben.«
    Aber das lässt Christel ihrem Mann nicht durchgehen. Natürlich sind die beruflichen Bedingungen nicht, wie er sie sich erträumt hat. Aber dann muss er eben den Schwerpunkt auf das Private legen.
    »Nur dort liegt heutzutage das Positive, und dort musst du es suchen. Dass du das Leben sinnlos nennst, mit drei Kindern und meiner liebeerwidernden Person, das muss ich mir jedenfalls verbitten. Und immerhin tust du doch das Deine. Immerhin kannst du verfolgten Menschen helfen.«
    Das ist wahr. Hans hat sich erst neulich wieder sehr für seinen früheren Vorgesetzten eingesetzt, Reichsjustizminister a. D. Curt Joël, der jüdischer Herkunft ist. Hans hat sich bemüht, Joël unter den persönlichen Schutz Gürtners stellen zu lassen. Es ist ihm tröstlich zu wissen, dass jedenfalls Joëls Sohn als Referent für Strafsachen im Reichsjustizministerium fest im Sattel sitzt.
    Günther Joël ist außerdem seit 1934 Mitglied der NSDAP und Verbindungsmann zwischen dem Ministerium und der SS, dem SD und der Gestapo. Und er gehört der Kommission an, die festlegen soll, wie in Zukunft mit Polizeibeamten zu verfahren sein wird,

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