Wer wir sind
Die Schergen auf den Fluren schreien seinen Namen.
Stauffenberg, wo ist Stauffenberg
Wo sind die anderen? Wo sind sie alle hin, die auf ihn gesetzt, sich an ihn gehängt, ihn bestärkt und vorwärtsgetrieben haben?
In der Stadtkommandantur herrscht das blanke Chaos. Leutnant Ewald Heinrich von Kleist-Schmenzin ist ausgesandt, um Truppen zur Verteidigung des Bendlerblocks zu beschaffen. Stadtkommandant Paul von Hase befindet sich aber bereits in Haft. Kleist eilt in großer Sorge zum Polizeipräsidium. Aber auch Polizeipräsident Helldorff ist nicht mehr aufzufinden.
Ich weiß nicht, zum wievielten Male ein Anschlag auf mich geplant und zur Ausführung gekommen ist
Er ist es. Das ist seine Stimme. Es ist ein Uhr früh. Charlotte, Tisa und die Wiemanns sitzen vor dem Radio. Tisa sieht ihre Schwägerin an. Charlotte sitzt hochaufgerichtet, vollkommen beherrscht.
Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. Die Bombe, die von dem Obersten Graf von Stauffenberg gelegt wurde
Die Wiemanns fahren hoch. Es ist klar, was sie denken: Ist das unser Stauffenberg gewesen? Andere werden diese Frage stellen. Die Tür öffnet sich leise, und Schuschu schleicht im Nachthemd herein. Charlotte wendet den Kopf nicht. Sie rührt sich nicht. Kein Muskel zuckt. Woher nimmt sie die Selbstbeherrschung? Tisa braucht keine Selbstbeherrschung. Es gibt nichts mehr zu beherrschen. Tisa ist lahm, blind, taub, fühllos. Tisa und ihre fünf Brüder: Der kleine Wilhelm ist verunglückt, Heini ist an Krebs gestorben, Wolfi ist gefallen, Johann Albrecht ist auf den Tod krank. Und wo ist Fritzi?
fasse ich es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen
Charlotte sitzt still. Sie wünschte, sie könnte sich bewegen. Aber sie ist nicht in der Lage dazu, aufzustehen, den Apparat abzuschalten, Schuschu wieder nach oben zu schicken. Sie kann sich nicht einmal eine Zigarette anstecken.
ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden
Tisa steht auf. Sie schaltet den Apparat aus. Die Stimme schweigt. Charlotte wendet sich mühsam um.
»Schuschu, was machst du hier. Schnell, geh zu Bett.«
Sie sieht die Augen ihrer Tochter.
»Ich bringe dich noch nach oben, ja?«
Im Flur ist es dunkel wie immer, wegen der Stromsperre. Charlotte knipst ihre Taschenlampe an. Zusammen tasten sie sich die Treppe hinauf.
»Mama? Warum haben diese Männer das gemacht? Warum wollten die unseren Führer umbringen?«
Ja, warum. Warum? Was soll Charlotte antworten? Sie hat Fritzis Entwicklung miterlebt, sie ist Fritzis weiten Weg mitgegangen, und nun weiß sie nicht, was sie ihrer Tochter antworten soll.
»Sie waren vielleicht nicht mit dem Führer einverstanden«, sagt sie. »Sie wussten vielleicht Dinge, die andere nicht wissen.«
»Mama?«, sagt Schuschu. »Wo sind diese Männer jetzt, die das gemacht haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Charlotte.
Schuschu sagt: »Glaubst du, dass Papa bei diesen Männern ist?«
Der Obergefreite Heim hat Meldung erstattet: Es ist unmöglich, eine Verbindung nach Wartenberg herzustellen. Alle Verbindungen ins Reich sind unterbrochen. Henning von Tresckow wird also nicht mehr mit seiner Frau sprechen.
Er liegt auf dem Feldbett. Es ist noch nicht Mitternacht. Der neue Tag hat noch nicht begonnen. Es ist die schwärzeste Stunde. Henning ergibt sich ihr. Er kann nun nicht mehr an Frau und Kinder denken. Er mag auch nicht mehr an das Attentat denken. Wozu? Er weiß nicht, was in Berlin passiert ist. Er wird es wohl niemals erfahren. Womöglich wird es niemand je erfahren: Und was ändert das?
Que no sabemos lo que nos pasa: eso es lo que nos pasa.
Henning weiß alles verloren, was ihm von Bedeutung war:Anstand, Ehre, Leben und Vaterland. Es ist auch nichts davon wiederzugewinnen. An Frau und Kinder kann er nicht mehr denken, aber an Wartenberg.
Er stellt sich Wartenberg vor: den waldumkränzten See, das stille Wasser. Schwäne. Das Schloss, seine blinkenden Fenster. Er stellt sich vor, sich diese besudelte Uniform vom Körper zu reißen, ein frisch gewaschenes Hemd anzuziehen, das im Wind der Mark getrocknet ist. Er stellt sich vor, nackt zu sein, in den See zu tauchen. Aber er kann sich nicht reinwaschen, nicht mit Wasser. Es steht zu befürchten, dass Henning
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