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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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jetzt?«
    »Ich arbeite.«
    »Und dann?«
    »Dann gehe ich.«
    »Was soll ich Eta sagen? Und Mark?«
    Henning sieht Fabian erstaunt an.
    »Dass ich an der Front ums Leben gekommen bin, natürlich. Diese Fiktion muss unbedingt aufrechterhalten werden, Eta und den Kindern zuliebe. Die ganze Welt wird ja jetzt über uns herfallen und uns beschimpfen und uns mit Dreck bewerfen. Ich für mich will darüber auch keinerlei Klage führen. Aber ich würde gern meine Familie davor bewahren.«
    Und noch immer ist es Nacht. Der Nachtzug von München ist auf dem Weg nach Berlin. Margarethe von Oven kommt zurück. Sie ist im Wehrmachtserholungsheim Schloss Elmau gewesen, zu einem dringend nötigen Urlaub. Aber sie hat das Schloss nicht ertragen: den Frieden, die Ruhe, die Mahlzeiten. Und im Lauf des gestrigen Tages hat sich ihre innere Unruhe zu einer Art von Hysterie gesteigert. Sie hatte Angst, nie mehr fortzukommen, von einer Lähmung für immer ans Bett gefesselt zu werden, wenn sie nicht sofort aufstand, packte, ihre Abreise vorbereitete. Und dann auf dem Münchener Hauptbahnhof hat Margarethe von dem Attentat erfahren.
    Seitdem ist die vertraute Angst wieder da: die physische Angst, das Schlottern der Knochen, die Übelkeit. Haben sie schon die Papiere gefunden? Halten sie schon in Händen, was Margarethe getippt hat?
    Der Führer Adolf Hitler ist tot. Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer
    Und werden Tresckow oder Stauffenberg der Gestapo verraten, wer all das für sie aufgeschrieben hat? Haben sie es womöglich schon getan? Sicher werden sie Margarethe schützen wollen. Aber werden sie der Folter standhalten? Werden sie auch noch standhalten, wenn man ihnen androht, ihre Familien zu verhaften?
    In der Morgendämmerung fährt der Zug in Berlin ein, in die Ruinenstadt, durch deren rauchende Trümmer die Lumpenkolonnen der Zwangsarbeiter ziehen, die Kriegsversehrten auf Krücken humpeln. Margarethe wird sich nun nach Potsdam durchschlagen.
    Sie ist ausgebombt. Sie und die Mutter sind in der Potsdamer Wohnung der Tresckows untergekommen. Die Wohnung steht aber leer. Die Mutter ist in Schlesien, Henning an der Front, Mark bei der Flak in Finkenbuch und Eta mit den kleineren Kindern in Wartenberg. Wollten die Nationalsozialisten nicht die Familie unter ihren besonderen Schutz stellen?
    Steht die Wohnung überhaupt noch?
    Es ist unfassbar. Wenn es nicht Wirklichkeit wäre, wäre es unvorstellbar. Aber es ist Wirklichkeit, und in der Wirklichkeit richtet der Mensch sich ein. Das Dach brennt, und er löscht. Sein Haus wird weggepustet, und er zieht in den Keller. Sein Nachbar wird abgeholt, aber bald ziehen neue Mieter in die Wohnung ein, seine Stadt versinkt im Schutt, und er nagelt ein paar Bretter vor ein Loch in den Trümmern, kocht ein Essen aus Abfall und preist sich glücklich, wenn nicht die Leiche eines Erschlagenen den Tümpel vergiftet, aus dem er sein Trinkwasser schöpft. Dann rollt er sich in seinen letzten Fetzen zusammen und vertraut auf die neue Ordnung der Welt, die sich auf das soeben noch Unvorstellbare gründet: Es ist alles furchtbar und morgen noch da. Der Schrecken herrscht heute,und verlässlich herrscht er auch morgen. Margarethe von Oven steigt aus dem Zug. Sie ist zurück.
    »Haben Sie die Rede des Führers gehört?«
    Eta von Tresckow, ihr Schwager Jürgen, seine Frau, die Mädchen, die Angestellten haben sich wie jeden Morgen in der Halle von Wartenberg zur Andacht eingefunden.
    »Die Rede? Nein.«
    So erfahren sie es.
    »Stauffenberg?«
    Der Name verstellt Eta jede Flucht in den Zweifel. Ihr Schwager sieht sie an. Er nimmt sie beiseite.
    »Henning steckt in dieser Sache?«
    Sie antwortet nicht.
    »Wir radeln nach Hohenwartenberg«, sagt Jürgen. »Wir mischen uns unter die Sommergäste. Wir hören mit den anderen die Abendnachrichten, wir zeigen unser Entsetzen, wir spielen großes Theater. So können wir uns vielleicht vor einem Verdacht schützen. Und ihn natürlich auch.«
    Ihn schützen? Was redet Jürgen? Eta kann nur eines klar denken. Henning ist tot. Wenn das Attentat missglückt ist, muss Henning tot sein. Er hätte angerufen. Er würde anrufen. Er lebt nicht mehr. Er muss tot sein.
    Mark von Tresckow kann es nicht fassen. Er kann die Niedrigkeit nicht begreifen, den Mangel an Ehrgefühl, den diese Offiziere gezeigt haben. Wie konnten sie einen so unglaublichen Verrat begehen? Wie konnten sie alle Loyalitäten vergessen, ihren Eid brechen, mitten im Krieg die oberste

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