Wer wir sind
morgen stirbt. Wenn das Attentat schiefgegangen ist, muss er sich morgen das Leben nehmen. Er sieht das ganz klar. Er kann jetzt die ruhigen, klaren Gedanken eines Menschen denken, der sich verloren weiß. Dies sind die einzig wahrhaftigen Gedanken, der Rest ist nichts als Maske und Rhetorik. Henning schließt die Augen. Er schläft.
Er schläft. Henning schläft. Seine Lippen sind geöffnet, die Augen geschlossen. Sein Arm ist nach oben und zur Seite geworfen, ragt über die Kante des Feldbetts hinaus. Hat der Mann keine Nerven? Schlabrendorff ist gekommen, um ihn zu wecken. Er hat die Rede im Rundfunk gehört. Er muss Henning wecken: den Verwandten seiner Frau, seinen General, seinen Freund, er kann ihn nicht wecken. Er kann es nicht.
Die Nacht vergeht langsam. Marion und Mariechen sitzen auf den Stufen des Schlesischen Bahnhofs. Marion hat das Brot gegessen, das Mariechen mitgebracht hat. Sie hat die Jacke umgelegt, die in ihrem Köfferchen war. Der nächste Zug nach Breslau geht früh um halb sechs. Mariechen hat ein bisschen geschlafen, den Kopf an Marions Schulter gelehnt. Marion hat nicht geschlafen. Sie könnte nicht sagen, dass sie etwas denkt.Sie versucht, Peters Gegenwart in ihrem Bewusstsein zu halten. Sie weiß, was sie zu tun hat: Sie muss nach Klein Oels gelangen. Sie muss die Familie informieren. Dann wird sie wieder nach Berlin zurückkehren. Marion hat all das von sich geschoben. Sie hat alle Gedanken weggelegt, wie einen Stapel Papier. Sie versucht wortlos, bildlos, blind die Verbindung zu Peter zu halten. Wo mag er sein?
Vielleicht zu Hause. Wahrscheinlich zu Hause. Sie stellt ihn sich vor, zu Hause in der Hortensienstraße, in der Küche, im Wohnzimmer, im Bett womöglich, tief und fest schlafend. Aber die Verbindung zu ihm reißt ab, wenn sie ihn sich zu Hause vorstellt. Es war sein Wunsch, dass sie nicht nach Hause kommt. Mindestens muss sie diesen Wunsch nun respektieren. Zu Hause hat sie jetzt nichts verloren. Die Verbindung zu ihm reißt ab, wenn sie an zu Hause denkt.
Die Verbindung reißt ab, wenn sie fühlt: Angst, Sehnsucht, Qual, Hoffnung. All dies ist nicht erlaubt. Sie muss den Kontakt zu ihm aufrechterhalten. Aber sie muss dies wortlos tun, bildlos, unterirdisch. Sie weiß, wie es geht. Sie muss seinen Namen in ihrem Herzen halten. Dieser Name ist kein Wort. Er besteht nicht aus Buchstaben, nicht aus Lauten. Es ist sein wahrer Name, der ihn ganz bezeichnet. Mit diesem Namen muss sie ihn rufen.
»Henning.«
Er ist sofort wach. Er wischt die Decke weg, setzt sich auf.
»Fabian. Was gibt es?«
»Es tut mir leid. Ich musste dich wecken. Er lebt. Er hat vor drei Stunden eine Rede gehalten. Ich habe ihn gehört.«
»Vielleicht gefälscht?«
»Unmöglich. Der Ton. Der Hass, der Zorn. Er ist unverletzt.«
»Ja«, sagt Henning.
Sie schweigen.
»Ich werde mich also erschießen«, sagt Henning. »Ich werde morgen früh die üblichen Anrufe entgegennehmen, die nötigen Weisungen und Befehle erteilen. Und dann werde ich mich erschießen.«
»Henning. Aber Henning, zum Mindesten wäre das übereilt. Du weißt doch gar nicht, ob das nötig wird. Du weißt nicht, ob sie auf deine Spur kommen. Du opferst dich vielleicht ganz umsonst.«
»Umsonst?« Ein kurzes Lachen.
»Henning. Du kannst das Eta nicht antun. Und Mark. Denk an Mark.«
»Ich kann es Eta und Mark nicht antun, dass man mich foltert. Wozu sich erst noch foltern lassen, wenn am Ende doch sicher der Tod steht? Aber ich beklage mich nicht. Keiner von uns hat das Recht, sich zu beklagen.«
»Henning«, sagt Fabian von Schlabrendorff. »Geh über die Linien. Lauf zu den Russen über.«
Es ist, als hätte er nicht gesprochen. Henning hat sich zurückgelehnt.
»Erinnerst du dich an den Tod des Herakles? Er hat sich auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Er konnte die Qualen nicht ertragen, die ihm sein Hemd bereitet hat. Das Hemd war mit seiner Haut verschmolzen. Wo er es abriss, riss er sein eigenes Fleisch auf. Das Hemd war getränkt mit dem Blut des Kentaurs Nessos. Du erinnerst dich? Herakles selbst hatte Nessos getötet, mit einem seiner vergifteten Pfeile. Er selbst hatte das Blut vergiftet, das auf ihn gekommen ist. Das Blut seines Opfers, an dem er gestorben ist.«
»Was meinst du damit?«, sagt Fabian. »Was meinst du denn, gerade du? Du hast so viel geopfert.«
»Es hat nicht genügt«, sagt Henning. »Wir sind Kain. Unser Opfer ist nicht angenommen worden.«
Henning steht auf. Schlabrendorff sagt: »Was tust du
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