Wer wir sind
weint, keiner reißt die Türen auf. Auch Marion Yorck bleibt sitzen. Sie würde aber am liebsten laut schreien. Sie muss nach Berlin, sie hat keine Zeit für Bombenangriffe. Ein junger Soldat hat sich erhoben. Er steht auf, er öffnet die Waggontür und springt ins Freie. Nun kommt Bewegung in die Sitzenden. Alles drängt hinaus auf die Wiese. Es ist sehr heiß. Der Lärm des Bombardements klingt deutlich herüber. Bitterfeld brennt.
»Die kriegen es ab.«
»Wie lange wir hier wohl feststecken werden.«
»Wir sollten einsteigen. Vielleicht geht es gleich weiter.«
Romai steht vor der Tür in der Hortensienstraße. Sie hat geklingelt, aber niemand öffnet. Romai versteht es nicht. Die Yorcks sind nicht da? Die Gerstenmaiers sind nicht da? Niemand ist da, nicht einmal Mariechen? Romai versucht es noch einmal. Jemand muss da sein. Romai hat ganz darauf gesetzt. Sie ist in Potsdam gewesen. Das Ministerium hat ihr endlich offiziell mitgeteilt, dass Edolf verhaftet worden ist, und gestern früh um sieben hat dann die Gestapo in Kreisau angerufen.
Melden Sie sich morgen beim Volksgericht Potsdam. Haben Sie verstanden? Am Donnerstag, den 20. Juli. Um 13 Uhr 30.
Romai ist heute in aller Frühe gefahren. Sie hat sich bemüht, den Kindern ihre Aufregung nicht zu zeigen. Renate war ohnehin bereits misstrauisch.
»Warum nimmst du so viele Sachen mit? Wenn Vati im Krankenhaus liegt und du morgen schon wiederkommst, wozu brauchst du das dann alles?«
»Vielleicht bekommt Vati dort nicht ausreichend zu essen.«
Das Paket für Edolf hat Romai auch richtig an der Gefängnispforte abgeben dürfen. Aber eine Sprecherlaubnis erhaltenhat sie nicht. Beim Volksgericht hat man ihr lediglich einen kurzen Brief ausgehändigt. In dem Brief stand, was Edolf benötigt: Wäsche, Seife, Zahnbürste, ein Buch. Unter diese Liste hatte Edolf ein paar Zeilen geschrieben.
Ich bin voller Zuversicht, dass wir mit unserer gemeinsamen Kraft die Wunden und Scharten des jetzigen Schicksals ausheilen und auswetzen werden, auch zum Wohl unserer Kinder. Mache Dir, Liebes, nicht zu viele Sorgen. Bewahre Deine Kräfte für die Kinder und unser zukünftiges gemeinsames Leben.
»Und ich kann meinen Mann wirklich nicht sehen?«
Der Beamte hat sie nicht einmal angeblickt.
»Bedaure.«
Die Enttäuschung hat Romai fast umgeworfen. Den ganzen Weg von Potsdam nach Berlin hat sie allein der Gedanke aufrecht gehalten, gleich bei den Yorcks unterkriechen zu können. Nun steht sie vor der Tür der Hortensienstraße, und niemand öffnet. Die Klingel schrillt in dem kleinen Häuschen. Sie schrillt und schrillt. Romai muss fort. Sie muss nach Kreisau zurückkehren. Freya wird wissen, was zu tun ist.
Bitterfeld brennt. Marion steht auf dem Bahnhof in Halle, im Gedränge und Geschiebe der festsitzenden Fahrgäste. Warum verbreitet der Rundfunk nicht, dass Hitler tot ist? Warum ertönen nicht Schreckens- und Jubelschreie, warum erhebt sich das deutsche Volk nicht und stürmt die Gauämter und Polizeistationen, die SS-Lokale und die Gefängnisse, die Gestapo-Büros und die Parteidienststellen? Warum kommt Marion nicht von der Stelle?
Die Bahnstrecke ist zerstört, heißt es. Aber doch sicher nicht alle Gleise bis Berlin? Man wird doch irgendwie um das Gebiet der Zerstörung herumgelangen und dann weiterfahrenkönnen? Man wird wohl nicht warten müssen, bis der Krieg verloren ist, damit jemand die verdammten Gleise repariert. Marion wird nicht für immer hier festsitzen, in dieser hinund herwogenden Menge: Beamte mit Koffern, Soldaten mit Gepäck, Frauen mit Taschen und Säcken und brüllenden Kindern, alle schiebend und geschoben, im Dampf von Schweiß und Enge, von Angst und verbissenem Zorn, schimpfend und johlend, kreischend, krakeelend, zwitschernd, brabbelnd und krähend, dies ist nicht Deutschland. Dies ist nicht Marions Heimatland. Dies ist ein fremder Planet, und Marion irrt unter Außerirdischen herum. Sie steckt fest, allein unter Larven, schnatternden Gespenstern und seelenlosen Hüllen. Wo um Himmels willen ist sie? Wo ist ihr Mann? Wo ist Peter Graf Yorck von Wartenburg?
»Unser geliebter Führer!«
Alice, das alte Kindermädchen der Schulenburgs, steht mitten im Esszimmer, mit erhobenen Armen wie eine Bühnentragödin.
»Unser geliebter Führer! Er ist verletzt!«
Auf Trebbow hat man sich zum Abendessen versammelt. Charlotte ist es, als vibrierte die Luft. Der Messergriff in ihrer Hand scheint zu glühen. Die Gabel glüht. Charlottes Hände
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