Wer wir sind
gehen.«
Marion bleibt stehen.
»Er hat sich gemeldet?«
»Er war frühmorgens ganz kurz zu Hause. Er hat nur das Hemd gewechselt. Er hat gesagt, Sie sollen das Haus gar nicht betreten, sondern gleich weiter nach Schlesien fahren.«
Sie sehen einander an.
»Es hat einen Anschlag auf Hitler gegeben«, sagt Mariechen. »Hitler ist aber nicht umgekommen.«
»Hitler ist nicht umgekommen.«
»Nein. Ich denke, Sie sollten besser nach Schlesien fahren, Frau Gräfin. Wir müssen zum Schlesischen Bahnhof gehen. Wir müssen zu Fuß gehen. Die Engländer waren letzte Nacht in Kreuzberg.«
Vor dem Bahnhof das übliche Gewühl, das sich aber verläuft. Sie gehen an der Prinz-Albrecht-Straße vorüber, dem Hausgefängnis der Gestapo, Sitz des Reichssicherheitshauptamtes und des Reichsführers-SS Heinrich Himmler. Alles ist ruhig. Sie gehen eng nebeneinander: zwei Frauen in hellen Sommerkleidern an einem heißen Berliner Juliabend. Auch in der Wilhelmstraße ist alles wie immer. Keine Soldaten schirmen das Regierungsviertel ab, keine Menschenmenge flutet die Straße hinauf, der Reichskanzlei entgegen.
»Haben Sie Hunger, Frau Gräfin? Ich habe Ihnen ein Brot gemacht, mit echter Butter und Schnittlauch.«
»Das ist lieb, Mariechen. Vielleicht später.«
Sie gehen die Kochstraße, dann die Oranienstraße entlang. Zum Teil rauchen die Ruinen noch. Auf einer verkohlten Mauer steht etwas.
Alle lebend herausgekommen
In der Ferne eine Kolonne von Russen, die in den Trümmern gräbt.
»Hier kommen wir nicht weiter. Ich denke, wir gehen durch die Alte Jakobstraße.«
»Es ist also schiefgegangen.«
»Ja, Frau Gräfin.«
»Und seit dem Morgen hat der Graf sich nicht mehr gemeldet.«
»Nein. Aber er wollte heute Morgen schon, dass Sie gleich weiter nach Schlesien fahren.«Im Adlon brodelt unterdrückte Erregung. Der Bendlerblock soll abgesperrt sein, der halbe Tiergarten. Das Regierungsviertel soll abgesperrt gewesen sein, inzwischen ist es aber wieder frei. Hitler soll tot, der Putsch soll misslungen, ein Aufstand soll niedergeschlagen worden sein, alles Unsinn, nichts als SS-Lügen, in Wirklichkeit soll der Staatsstreich in vollem Gange und die Regierung endgültig gestürzt sein. Alles achtet mit großer Umsicht darauf, auch im Zustand höchster Erregung weder Freude noch Angst zu zeigen, weder für noch gegen die Regierung Partei zu ergreifen. Es ist inzwischen zehn Uhr abends.
Ursula Kardorff ist gerade aus der Redaktion gekommen. Sie wird von allen umdrängt. Sie hat einen Fahnenabzug des Extrablatts der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹ mitgebracht, frisch aus der Setzerei.
S ieben Tote im Führerhauptquartier. Der Führer unverletzt
»Glauben Sie das?«
»Man muss es abwarten.« Graf Hardenberg hat schon mehrfach Ursulas Arm gepackt, er hat sie mehrfach ein wenig geschüttelt. »Wir werden es sehen. Wir werden es ja sehen.«
Ursula nickt. Sie ist gedrückt. Sie hat gerade von Wolfi Schulenburgs Tod erfahren. Sie denkt aber nicht an ihren ehemaligen heimlichen Geliebten, sondern an seinen Bruder Fritzi. Am 18. war Fritzi mittags noch einmal bei ihr. Sie konnte nicht bleiben, sie musste in die Redaktion zurückkehren. Er stand im Begriff, nach Trebbow zu seiner Familie zu fahren. Sie ließ ihn allein in ihrer Wohnung zurück. Abends lag die Bibel auf dem Tisch. Aufgeschlagen war der 73. Psalm.
Denn die Gottlosen sind in keiner Gefahr des Todes, sondern stehen fest wie ein Palast. Sie sind nicht in Unglück wie andere Leute und werden nicht wie andere Menschen geplagt. Darum fällt ihnen ihr Pöbel zu und laufen ihnen zu mit Haufenwie Wasser und sprechen: »Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glücklich in der Welt und werden reich.« Ich hätte schier so gesagt wie sie, aber siehe, damit hätte ich verdammt alle meine Kinder, die je gewesen sind
Es ist vorbei. Er ist gescheitert. Bei dem Schusswechsel vorhin ist Claus Stauffenberg an Schulter und Arm verletzt worden. Er steht am Schreibtisch in der Bendlerstraße. Draußen auf den Fluren das Getrampel von Stiefeln, Gelärm, laute Rufe. Seine Frau hat er nicht mehr erreicht. Aber die Sekretärin hat ihn mit Paris verbunden. Claus hätte sich gern von seinem Vetter Cäsar Hofacker verabschiedet. Er hat aber nur Oberst von Linstow gesprochen. Er hat Linstow erklärt, wie die Dinge liegen.
»In Berlin ist alles verloren. Aber kämpft weiter, kämpft ihr dort draußen weiter, rettet, was zu retten ist.«
Was ist zu retten? Claus sieht sich um. Er ist allein.
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