Wer wir sind
Kuhn, wenn Sie mir folgen wollen.«
Der General steigt aus. Er geht in den Wald hinein.
Dassler wartet. Sie sind im Wald bei Królowy Most. Das Unterholz ist dicht. Der General ist verschwunden. Es ist vollkommen still. Kein Vogel singt, nichts ist zu hören. Dann ein tiefer Atemzug: ein Windstoß in den Kronen der Bäume, der aber hier unten nicht zu fühlen ist. Dassler weht es eigenartig an. Er hat Angst. Es ist aber nicht die Angst, wie man sie vor lebenden Menschen verspürt: nicht die Furcht vor einem Hinterhalt,vor einem Angriff der Partisanen, vor einem in der Schlacht weggeschossenen Bein. Es ist Grauen, ein Kindergrauen vor schwarzen Hunden, die die Kutsche jagen, etwas Dunklem unter dem Bett, einer einsamen Gestalt, die aus dem Unterholz tritt, langsam und unausweichlich auf Dassler zuhinkt. Warum kommt der General nicht zurück? Wo sitzt der Feind? Wo lauert der Schrecken? Und da kommt Kuhn. Er stürzt durch das Unterholz, bleich und verwirrt.
»Die Karte! Ich brauche die Karte. Die Karte des Generals, er schickt mich um die Karte.«
Sie reißen die Tür auf, sie suchen. In Kuhns Kopf klingen Hennings Worte.
Sie sind mein Zeuge, Kuhn. Ich brauche einen Zeugen dafür, dass ich von Partisanen erschossen worden bin.
Dann hat der General Kuhns Hände ergriffen.
Adieu. Wenn es Ihnen gelingt, am Leben zu bleiben, dann müssen Sie sagen, was wir gewollt haben.
Was haben sie gewollt?
Henning denkt nicht mehr darüber nach.
Der Wald ist still, bis auf Kuhns eilige Schritte, die sich entfernen. Ein Gedanke streift Henning. Noch könnten tatsächlich Partisanen auftauchen. Sie könnten ihm dies abnehmen, diese letzte Tat. Aber auch dieser Gedanke verfliegt. Henning hält ihn nicht fest. Er hält nichts mehr fest. Es ist jetzt leicht, ganz leicht, die Last abzulegen. Henning hebt den Arm, schießt ein paarmal in die Luft.
Kuhn und Dassler werfen sich ins Gebüsch.
Dassler ist fast erleichtert. Es sind Partisanen. Es ist der Feind. Dies ist saubere soldatische Angst: die Angst vor einer Schusswunde, nicht die furchtbare Furcht, seine Seele zu verlieren. Was ist der Krieg?
Einer muss sterben, ich oder er.
So hat Stieff es einmal ausgedrückt. Er hat aber Deutsche und Russen gemeint, nicht etwa Adolf Hitler und Helmuth Stieff. Henning denkt nicht an Stieff. Er lauscht. Der Wald hat den Nachhall seiner Schüsse verschluckt. Henning hält die Granate in der Hand, lehnt seine Wange daran. Ein Problem von Gewehrgranaten ist ihr Mangel an Zielgenauigkeit. Über diese kurze Distanz wird sich das Problem nicht stellen. Henning atmet ein, dann aus. Noch einmal, ein letztes Mal, wird Henning schuldig am Tod eines Menschen. Henning schließt die Augen.
Vater in deine Hände
Die Detonation ist laut, unverkennbar: eine Granate. Dann Stille. Dassler und Kuhn liegen im Unterholz. Zeit vergeht. Dassler hört ein Geräusch: etwas wie ein Schluchzen, ein Wimmern, es ist Kuhn.
»Herr Major?«
Keine Antwort.
»Herr Major, kann ich helfen?«
Kuhn sitzt im Gestrüpp, schüttelt den Kopf. Seine Augen sind leer. Was hat der Mann? Dassler gibt ihn auf. Er kriecht allein los. Er kriecht auf dem Bauch, vorschriftsmäßig. Er kriecht in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen sind. Holz knackt, er hält ein, kriecht weiter. Irgendwo über dem Wald schreien Krähen. Die Düsternis, die seelische Bedrückung senkt sich erneut auf ihn. Er richtet sich vorsichtig auf. Und da liegt der General. Er liegt auf dem Rücken. Er muss es sein. Dassler erkennt ihn an seiner Uniform. Die Arme hat er weit ausgebreitet, als hieße er jemanden willkommen.
Erst viel später fällt es Dassler auf. Erst als es ihm mit Major Kuhns Hilfe gelungen ist, die Leiche des Generals ins Autozu tragen, wird ihm bewusst, wie merkwürdig unberührt der Kampfplatz aussah. Der übermächtige Gegner, der den General niedergerungen hat, hat keinerlei Spuren hinterlassen.
»Der erste Schuss muss sitzen«, sagt Onkel Nux. »Darum geht es vor allem bei der Löwenjagd.«
Onkel Nux unternimmt mit den beiden ältesten Söhnen seines Neffen und Patensohns Claus Stauffenberg eine Waldwanderung. Die Nachricht vom Attentat hat Schloss Lautlingen schon gestern Abend erreicht. Aber erst heute Morgen, als der Mechaniker Leibold in aller Frühe heraufkam, um die Familie zu warnen, haben sie die ganze Wahrheit erfahren. Alle sind wie betäubt. Claus’ Mutter hat ja nicht einmal gewusst, dass ihr Sohn überhaupt in eine Verschwörung verwickelt war. Und selbst Nux hatte
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