Wer wir sind
Pappe, Stifte, Klebstoff. Onkel Dietrich ist zu Besuch. Das ist schön. Marianne hat es gern, wenn sie möglichst viele Familienmitglieder umgeben. In den letzten Wochen war beinahe immer jemand zu Besuch. Das wird aber enden. Marianne weiß längst, dass sie bald fortgehen werden. Die Eltern reden nicht offen darüber. Aber sie reden auch nicht nicht darüber. Neulich waren die Leibholzens in Berlin bei Oma und Opa. Mama hat mit Opa geredet, und sie hat nicht gewusst, dass Marianne alles hört.
Sie weiß nicht, dass Marianne alles sieht. Neulich hat es spät nachts an der Tür geklingelt. Marianne hat sich hinaus auf den Treppenabsatz geschlichen. Sie hat gesehen, wie die Mutter den Vater schnell durch den Hintereingang in den Garten gedrängt hat, aber dann war es zum Glück nur eine Nachbarin. Marianne weiß, dass von nun an alles nur noch vorübergehend ist.
Sie hat ihrer kleinen Schwester Christiane gesagt, dass sie jetzt nicht gestört werden will. Was sie hier tut, ist schließlich kein Spiel. Marianne hat entschieden, welche Puppen sie mitnehmen wird. Es sind ihre Lieblingspuppen. Ihre Lieblingspuppen kann Marianne natürlich nicht zurücklassen. Marianne hat entschieden, dass Cläre und Jenny ihre Lieblingspuppen sein müssen. Sie sind klein. Sie sind nur so lang wie Mariannes Hand. Man kann sie in eine Manteltasche stecken, und dann kann man sie auf jeden Fall mitnehmen. Marianne hat begonnen, Tagebuch zu führen. Man sollte alles aufschreiben, wenn alles nur vorübergehend ist. Andererseits darf man nichtwirklich alles aufschreiben. Man muss es so aufschreiben, dass andere es nicht lesen können.
An wichtigen Tagen malt Marianne ein Kreuz in ihr Tagebuch. Wichtige Tage sind Tage, wo Marianne glaubt, dass über das Fortgehen entschieden wird. Seit Onkel Dietrich da ist, hat sie jeden Tag große Kreuze in ihr Tagebuch gemalt. Marianne hat keine Angst vor dem Fortgehen. Sie werden wohl in die Schweiz gehen, und Marianne ist immerhin schon ein paarmal in der Schweiz gewesen. Einmal waren sie im Winter dort, da sind sie mit dem Pferdeschlitten gefahren. Daran kann sie sich jetzt halten.
Marianne hat die Mama gebeten, ihr ihren Pass zu leihen, auch ihre Geburtsurkunde und ihr Taufzeugnis. Die Pässe für Cläre und Jenny hat sie genau nach Vorlage gemacht, auch die Geburtsurkunden. Nun fehlen nur noch die Taufzeugnisse. Die sind sehr wichtig. Das weiß Marianne. Der Vater ist getauft, das weiß sie genau. Er ist kein Jude, er ist nur jüdischer Abstammung. Wenn er nicht getauft wäre, dann wäre er Jude, und das wäre noch viel schlimmer: So hat es die Lehrerin Marianne voller Mitleid erklärt. Marianne hat mit niemandem darüber gesprochen. Sie hat lange nachgedacht, wie sie mit den Taufzeugnissen verfahren soll. Nun hat sie sich entschlossen. In die Zeile »Konfession des Vaters« wird sie schreiben: »evangelisch-lutherisch (aber jüdischer Abstammung)«. Nicht dass das auf ihrem Taufschein stünde. Aber es ist so. Und Jenny und Cläre sind Mariannes Lieblingspuppen. Da kann man wohl erwarten, dass sie Mariannes Schicksal teilen.
Bis zum Ende des Picknicks waren sie noch alle ganz fröhlich, auch die Erwachsenen. Sie haben sogar gesungen, wie sie es immer mit Onkel Dietrich tun,
Über die Wellen gleitet der Kahn –
Dann ist Onkel Dietrich unruhig geworden. Er hat zum Aufbruch gedrängt: Die Grenze kann jederzeit geschlossen werden.
Sie haben also voneinander Abschied genommen. Der Onkel kommt ja nicht mit in die Schweiz. Er ist mit seinem Freund Eberhard Bethge zurück nach Göttingen gefahren. Es berührt Marianne eigentümlich: Der Onkel fährt zurück in das Haus, das für Marianne immer zu Hause gewesen ist, und sie selbst wird gar nicht dort sein, um ihn zu empfangen. Sie und Christiane sitzen hinten im Auto.
Sie stecken zwischen Koffern und Decken und Tüten und Taschen wie Nippesfiguren in einem vollgestellten Regal. Sie fahren mit offenem Verdeck, obwohl es jetzt nicht mehr warm ist. Tatsächlich ist es kalt. Die Eltern sind verstummt. Es dämmert bereits, bald wird es dunkel sein. Christiane spielt mit ihrer Puppe. Sie plappert und singt leise vor sich hin. Marianne beneidet sie. Christiane ist erst sieben. Sie versteht noch gar nichts von dem, was geschieht. Sie weiß nicht, dass sie niemals mehr nach Hause zurückkommen. Die Räder rollen. Die Eltern schweigen. Dann wendet sich die Mutter um.
»Kinder? Wir sind gleich an der Grenze. Ihr wisst, was ich euch vorhin gesagt habe.«
Sie
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