Wer wir sind
Hoffnung. Sie weiß, wie der Prozess ausgehen wird. Sie hatkeine Sprecherlaubnis bekommen, aber vielleicht kann sie ihm nah sein. Vielleicht können sie einander noch einmal sehen, vor dem Ende. Vielleicht kann Peter Marion sehen, das Gesicht seiner Frau. Dann müsste er nicht ganz allein vor seinen Peinigern stehen.
Jüli hat Annedore geschrieben. Man hat ihn ins KZ Ravensbrück gebracht. Er darf alle vierzehn Tage schreiben, mehr weiß er nicht.
Aber Du weißt ja Bescheid. Du kennst das ja schon .
In der Tat. Annedore Leber hat geschlafen, sie ist aber sofort wach, als es läutet. Sie weiß, wer da kommt. Sie kommen ja meistens sehr früh am Morgen. Annedore sieht aus dem Fenster. Draußen die dunkle Limousine. Hat sie damit gerechnet? Warum ist sie dann nicht geflohen? Sie würde auch jetzt nicht fliehen. Sie wird den Männern folgen, die sie mitnehmen wollen. Und diesmal wird man sie nicht wieder heimgehen lassen, dessen ist sie sich sicher. Annedore geht zur Tür und öffnet.
2
Seit 1935 tagt der Volksgerichtshof für gewöhnlich im Schulgebäude des Königlichen Wilhelms-Gymnasiums in der Bellevuestraße 15, gleich neben dem Hotel Esplanade. Aber nicht heute. Der heutige Prozess gegen Oberleutnant Peter Graf Yorck von Wartenburg, Hauptmann Friedrich Karl Klausing, Generalmajor Hellmuth Stieff, Generalleutnant Paul von Hase, Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, Generaloberst Erich Hoepner, Oberstleutnant Robert Bernardis und Oberleutnant Albrecht von Hagen wird im Schöneberger Kammergerichtsgebäude im Kleistpark stattfinden. Marion hat ihr Gepäck im Haus ihrer Schwägerin Püzze Siemens im Dol abgestellt. Dann hat sie sich auf den Weg gemacht.
Sie kommt von der Potsdamer Straße her, so dass sie durch den Park gehen muss. Sie kennt das Kammergerichtsgebäude aus ihrer Referendariatszeit. Sie kann sich vorstellen, wo die Verhandlung stattfinden wird: im Großen Saal im Obergeschoss.
Marion muss einfach nur die Halle durchqueren, die Treppe hinaufsteigen und den Gang entlanggehen. Sie muss überlegen aussehen. Sie muss forschen Schrittes marschieren wiejemand, dem es selbstverständlich ist, in diesem Gebäude sein Ziel zu erreichen. Sie stößt die Tür auf.
Die plötzliche Kühle der Halle treibt ihr den Schweiß aus den Poren. Nicht die Stirn abwischen, nicht zögern. Die Treppe hinauf. Ihre Schritte hallen. Fest auftreten. Nicht huschen, nicht kuschen, von Rechts wegen hier sein. Sie sieht den Saal, am Ende des Gangs. Die Tür steht offen. Der Zuschauerraum ist bereits gut gefüllt.
»Na, und wo wollen Sie denn hin?«
Marion bleibt stehen. Der Wachtmeister betrachtet sie nicht unfreundlich: ein schon älterer Mann mit einem Bernhardinergesicht, kleinen braunen Flecken im Augenweiß.
»Ich will in den Saal.«
»Ach. Sie haben sicher eine Sondergenehmigung.«
Sie sagt: »Mein Mann ist angeklagt.«
Der Wachtmeister nickt. Er sagt: »Es ist keiner zugelassen. Nur Leute mit Sondergenehmigung. Na, denn kommen Sie mal mit.«
Marion erschrickt.
»Sie können zu uns«, sagt der Wachtmeister. »Sie können sich in die Wachstube setzen.«
Marion folgt ihm. Der Wachtmeister öffnet eine Tür.
»Hier herein«, sagt er. »Welcher ist denn Ihr Mann?«
»Peter Graf Yorck von Wartenburg.«
»Na. Denn setzen Sie sich man hier hin, Frau Gräfin. Ich sage Ihnen, wenn Ihr Mann drankommt.«
Im Saal gellt Freislers Stimme. Die Wachleute kommen und gehen, sie sitzen am Tisch, sie stehen wieder auf. Sie reden halblaut miteinander. Die Wände sind nicht sehr dick. Marion hört das böse Gellen, sie versteht aber nicht, was Freisler sagt. Manchmal setzt das Gellen aus, dann geht es wieder los.So geht es lange. Die Tür öffnet sich, und ein Wachtmeister kommt herein. Es ist Marions Wachtmeister.
»Frau Gräfin. Ihr Mann ist jetzt dran.«
Es ist still drüben. Dann keift die schreckliche Stimme wieder los, in ansteigenden, sich überschlagenden Kadenzen. Die Stimme steigt, steigt, bricht ab, dann herrscht Stille. Hat er eine Frage gestellt? Marion strengt sich an. Sie hört nichts. Sie ist nur durch eine Wand von ihrem Mann getrennt. Ist dies Peter, dieser Moment der Stille? Das Gellen setzt erneut ein, auf neuer, unerhörter Höhe, bricht dann ab, wieder auf diesem hohen Ton, der eine Frage bezeichnen könnte. Was will der schreckliche Mann von Peter wissen? Marion schließt die Augen. Am liebsten würde sie das Ohr an die Wand drücken. Aber nach einem kurzen Moment der Stille, der kaum für zwei,
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