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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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gewöhnlichen Gang der Dinge gelöst wie das Abendmahl. Jeder Moment, jede Bewegung, jede Handlung ist ein einzelner Tropfen, der hörbar in den Strom der Zeit fällt. Marion durchquert die Diele. Sie öffnet die Haustür. Sie schließt die Haustür. Sie durchquert den Garten. Hinter ihr liegt das Haus, in dem die Dinge an ihrem Ort stehen, würdig und still. In ihr ist ein schwarzes Wasser, das steigt und steigt.Strafanstalt Moabit. Annedore Leber teilt nun Jülis Schicksal. Sie liegt in der Zelle, auf der Pritsche. Und soll sie nicht tragen können, was er schon so lange so tapfer trägt?
    Die Stille, nachts. Die Flure. Die Spione. Die schleichenden Aufseherinnen. Das Geklopfe, hier, dort, drüben, überall, nah, fern, dann wieder woanders, es geht die ganze Nacht. Sie reden miteinander. Sie verständigen sich: Annedore weiß das von Jüli. Sie ist allein. Aber die anderen kennen einander. Sie ist nicht allein: Eine Gefangene ist niemals allein. Allein sein kann nur ein Mensch, der bestimmen kann, ob er einen anderen in seinem Raum duldet, ob er ihm die Tür öffnet oder sie vor ihm verschließt. Annedore lauscht auf das Klopfen, sie lauscht auf die Schritte im Gang. Sie denkt nicht an die Kinder. Sie zieht die Kinder nicht hinein: Die Kinder werden leben, sie sind nicht in Gefahr. Annedore denkt an Jüli.
    Es ist nun freilich für sie beide zu Ende. Sie kann nicht mehr draußen um ihn kämpfen, und es ist keiner übrig, der um sie kämpfen würde. Es ist auch kein Kampf mehr zu bestehen. Dieser Kampf, der alte um die Freiheit, ist vorüber. Nun wird es darum gehen, den Verhören standzuhalten. Es wird darum gehen, sich auf den Tod vorzubereiten.
    Barbara Haeften weint noch immer. Sie weint seit ihrer Inhaftierung. Sie kann nicht aufhören. Sie weint wie Niobe, Tag und Nacht, Barbara ist aber doch eine gute Christin. Sie ist eine sehr religiöse Frau. Sie betet das Vaterunser, wieder und wieder. Aber ihre Seele betet nicht mit. Dein Wille geschehe? Barbara von Haeften will nicht, dass Gottes Wille geschieht. Gottes Wille war es offenbar, dass Hitler überlebt. Es scheint sein Wille zu sein, dass Barbara und ihr Mann im Gefängnis gelandet sind. Barbaras Wille ist es, dass jetzt sofort alles gut wird, dass sie frei ist und vereint mit ihrem Mann, dass derKrieg zu Ende und dieser ganze Albtraum vorbei ist. Barbara möchte, dass nicht Gottes, sondern Barbaras Wille geschieht. Es ist ganz offensichtlich, dass ihr Wille bei Weitem der Vernünftigere ist.
    Marion Yorck ist auf dem Rückweg in den Dol, ins Haus ihrer Schwägerin Püzze Siemens. Es ist lang nach Mitternacht. Marion geht zu Fuß. Anders kommt man nachts nicht voran in der zertrümmerten Stadt. Es ist still. Wenn die Bomber schweigen, ist es still, totenstill, reglos bis auf den driftenden Staub. Die Stadt ist keine Stadt mehr, nichts von Menschen Erbautes. Es ist eine Klippenlandschaft, in der Urvögel leben, eine Karstlandschaft, geschaffen von Wind und Wasser, benagt von den Gezeiten. Der Wind singt in leeren Fensterhöhlen. Unter Marions Sohlen knirschen Glasscherben. Irgendwo tropft Wasser: pling pling pling. Marion hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.
    Sie hat die Briefe nicht abgegeben, die Davy Moltke, Püzze Siemens und Marion gleich nach Marions Rückkehr aus der Hortensienstraße an Peter geschrieben haben. Sie saßen wie Schulmädchen rund um den Tisch.
    Lieber Peter
    Mein lieber Bruder
    Geliebter Mann
    Einmal hat Davy gesagt: »Püzze? Weißt du noch? Damals an Weihnachten, als Bia, Peter, Hannusch und Heinrich – «
    »Nein«, hat Püzze gesagt, das älteste der Yorck-Geschwister. »Nein, Davy. Das geht jetzt auf gar keinen Fall.«
    Davy hat genickt. Sie hat geweint, aber still für sich. Gegen zehn Uhr abends ist Marion mit den Briefen in die Prinz-Albrecht-Straße gelaufen. Kurz nach Mitternacht war sie da. Der Pförtner wollte die Briefe aber nicht annehmen. Marion hat sehr gebeten.
    »Sie sind doch für meinen Mann. Er ist zum Tode verurteilt worden. Ich möchte so gern, dass er sie noch liest.«
    Der Mann hat abgewunken.
    »Nehmen Sie die man wieder mit. Das hat Zeit bis morgen. Wir sind doch keine Unmenschen.«
    Am nächsten Morgen steht es in der Zeitung.
    Verräter gehängt
    Darunter die Namen, Peter Yorcks als Letzter. Freya sitzt am Frühstückstisch im Berghaus. Sie hält die Zeitung in der Hand. Sie denkt an einen Winterabend in der Hortensienstraße, als sie Haydns ›Schöpfungsmesse‹ auf dem Grammophon gehört haben. Sie denkt an

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