Wer wir sind
wie man an sich selbst denkt, ohne einen Namen. Es ist, als atmete er neben ihr. Es ist, als wäre er für einen Moment hinausgegangen und käme gleich wieder, jetzt, jeden Moment. Von irgendwo schlägt es fünf.Sonderaktion. Das Gefängnis Plötzensee hält den Atem an. Alle sind in die Zellen gesperrt worden, niemand arbeitet mehr. Der Bibliothekar und sein Zellengenosse haben den Tisch unter das Fenster geschoben. Sie balancieren auf der Tischplatte, jeder mit einem Fuß, sie umklammern die Gitterstäbe. Auf dem Hof wimmelt es von Gestapo. Dann werden die Gefangenen angeliefert. Sie werden über den Hof III geführt, mit gefesselten Händen, jeder flankiert von zwei Wachtmeistern.
»Das sind bestimmt welche vom 20. Juli.«
»Den einen da kenne ich. Oder ist er es doch nicht? Doch. Das ist er. Mensch. Das ist General von Hase. Der Stadtkommandant von Berlin.«
»Der Stadtkommandant. Unglaublich. Und wer mag der da sein?«
Ein hochgewachsener, schmaler Mann. Ein feines Gesicht.
»Keine Ahnung.«
»Da ist eine Filmkamera. Sie bringen eine Filmkamera.«
Der Mann mit dem feinen Gesicht hebt den Kopf, bevor er das Gefängnis betritt. Er hebt noch einmal das Gesicht zur Sonne.
Die Exekutionen des 8. August sollen um 17 Uhr 25 mit der Erhängung des Generalfeldmarschalls Erwin von Witzleben beginnen. Dann soll der Bruder Paula Bonhoeffers folgen, der Berliner Stadtkommandant Paul von Hase. Nach ihm werden Generaloberst Erich Hoepner, Generalmajor Hellmuth Stieff, Oberstleutnant Robert Bernardis, Hauptmann Friedrich Karl Klausing, Oberleutnant Albrecht von Hagen und als Letzter um 17 Uhr 46 Peter Graf Yorck von Wartenburg sterben. Peter Yorck hat darum gebeten, noch einmal von Pfarrer Hanns Lilje das Abendmahl empfangen zu dürfen. Natürlich ist diese Bitte abgeschlagen worden.
»Graf Yorck.«
»Lieber Poelchau. Ach, das ist schön.«
Harald Poelchau hat es geschafft. Es ist ihm gelungen, zu Peter Yorck vorzudringen. Bis zum Beginn der Hinrichtungen hat die SS ihn und seinen Kollegen Pfarrer Buchholz daran gehindert, die Zellen zu betreten. Aber jetzt kümmert sich keiner mehr um die Geistlichen. Peter Yorck und Harald Poelchau haben nun genau so lange Zeit, wie die sieben anderen Verurteilten brauchen, um zu sterben.
»Wie schön, dass Sie noch kommen können«, sagt Peter Yorck. »Ich habe mit keinem so lieben Besuch mehr gerechnet. Man scheint es ja sehr eilig mit uns zu haben.« Peter beugt sich vor. Er senkt die Stimme. »Es sind noch längst nicht alle Zusammenhänge bekannt. Viele werden sich retten können. Ich nenne keine Namen. Aber lassen Sie das wenn möglich allgemeines Wissen werden.«
Und warum muss dieser Mann sterben? Warum gerade dieser, im großen allgemeinen Sterben? Aber es sterben ja lauter Einzelne, jeder von ihnen ein einzigartiges Geschenk an die Welt.
»Ich habe Marion geschrieben, auch meiner Mutter und Bia«, sagt Peter. »Richten Sie ihnen bitte trotzdem noch einmal meine tiefsten Herzensgrüße aus. Sagen Sie ihnen, dass ich die Gewissheit der Gotteskindschaft auch hier nicht verloren habe. Ich fühle mich frei von den versklavenden Mächten, frei von Sünde und Tod. Ich trete voll Zuversicht vor meinen Richter. Wir haben gegen das fünfte Gebot verstoßen, das ist wahr, wir haben nicht zu den Friedfertigen gehört. Aber das war uns in dieser Zeit eben nicht möglich. Sprechen Sie das Vaterunser mit mir?«
Vater unser, der du bist im Himmel
Draußen auf dem Gang Schritte, Stimmen, Schlüsselrasseln.Sie kommen. Harald Poelchau und Peter Graf Yorck von Wartenburg halten einander an den Händen. Sie stehen Stirn an Stirn.
Und vergib uns unsere Schuld,
Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern
Die Zellentür fliegt auf. Grelles Scheinwerferlicht. Eine Kamera.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Übel
»Die Zelle räumen. Raus da, alle raus!«
»Los, los, los. Alle raus bis auf den Gefangenen!«
denn dein ist das Reich
»Raus mit dem Pfarrer!«
»Herr Pfarrer, so kommen Sie doch!«
und die Kraft und die Herrlichkeit
Hände packen Poelchau, ziehen ihn fort.
»Ich habe sie gesehen«, ruft Peter Yorck ihm nach. »Meine Frau. Ich habe sie am Straßenrand stehen sehen!«
»Ich sage es ihr!«
In Ewigkeit. Amen
Von der Kirche her schlägt es sechs. Marion steht auf. Sie blickt sich noch einmal um, im Wohnzimmer in der Hortensienstraße. Sie nimmt ihre Tasche, sie nimmt den Schlüssel. Jeder Moment, jede Bewegung, jede Handlung ist aus dem
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