Wer wir sind
höchstens drei Worte reichen kann, geht das Gebrüll weiter. Marion ist fühllos von der Stimme, ein rollender Kiesel im Brandungsgebrüll. Sie möchte sich die Ohren zuhalten. Sie hält sich aber die Ohren nicht zu. Sie kann Peter nicht hören. Sie kann niemanden hören, nur diese böse Stimme, die alles übertönt. Sie weiß aber, dass Peter da ist. Seine Stimme ist die Stille hinter dem Gebrüll. Seine Stimme ist all das, was das Gebrüll nicht ist.
In der Pause vor der Urteilsverkündigung ist Marion allein. Die Wachtmeister sind alle hinausgegangen. Es ist still. Marion ist aufgestanden: Die Stille hat sie emporgezogen, sie kann sich nicht mehr setzen. Sie geht hin und her, hin und her, dann ertönt wieder die Stimme Freislers. Sie klingt jetzt getragen, dröhnend, als spräche er im Inneren einer Röhre. Dann wieder Stille. Dann Lärm auf den Gängen: Offenbar ist die Verhandlung beendet, das Urteil verkündet. Marion stürzt aus dem Zimmer hinaus auf den Gang.
Sie sieht ihren Wachtmeister. Sein Gesicht, seine mitleidigen Augen. Marion weiß mit einmal, was sie tun muss. Sie muss nach vorn zur Elßholzstraße gelangen, bevor die Tore zum Hof sich öffnen und die Gefangenentransporte das Gebäude verlassen. Marion läuft los. Sie rennt den Gang entlang, die Treppe hinunter, sie umrundet das Gerichtsgebäude. Sie ist nicht die Einzige, viele warten vor den Toren. Marion kommt also nicht zu spät. Die Wartenden stehen still. Sie sehen einander nicht an. Die Tore öffnen sich. Eine grüne Minna fährt vorbei, noch eine. Marion beugt sich vor, sie versucht durch die Rückfenster zu spähen, im Inneren etwas zu erkennen. Die Wagen rumpeln und rattern. Dann sind sie fort.
Ein Stück weit hat Marion den Bus genommen, dann ist sie eine Station mit der S-Bahn gefahren. Seitdem geht sie zu Fuß. Es ist schwierig, voranzukommen in der zerstörten Stadt, im Schein der fröhlichen Hochsommersonne. Marion ist auf dem Weg in die Hortensienstraße. Sie möchte nach Hause. Marion hat sich tapfer geschlagen. Bis hierher hat sie sich tapfer geschlagen, nun wird sie doch auch die letzten paar Meter noch bewältigen? Sie ist ja schon in der Hortensienstraße. Der Weg wird länger und länger, je weiter sie geht. Es ist die Sonne, die furchtbar heitere lachende Sonne, die ihr den Weg so erschwert. Jeder Meter hier ist vertraut. Jedes Haus, jeder Baum hier kennt Peter Yorck. Marion stößt die Gartentür auf.
Sie geht durch den Vorgarten. Neben der Tür der Flieder aus Kreisau. Marion reißt das Vögelchen ab, das die Gestapo über ihr Türschloss geklebt hat, sie schiebt den Schlüssel ins Schloss. Der Schlüssel dreht sich. Die Tür springt auf. Marion betritt ihr Haus. Es ist vollkommen still. Mariechen ist in Schlesien. Helmuth Moltke, Eugen Gerstenmaier und Peter sind verhaftet. War Marion je ganz allein in diesem Haus?
Marion geht ins Wohnzimmer. Auf der Armlehne seines Sessels liegt noch immer die Bibel. Marion geht in die Küche. Sie öffnet den Schrank. Sie berührt die Tassen, aus denen sie jeden Morgen getrunken haben: ein Mann und eine Frau, plaudernd oder Zeitung lesend in stummer Vertrautheit, an der auch die Gegenstände Anteil hatten. Die treuen Gegenstände, ohne die das Leben nicht denkbar wäre, die Dinge, die ihre Besitzer begleiten, die sich ihnen anpassen, schweigend und vorhanden, so dass das Leben in seinem Rhythmus täglicher kleiner Verrichtungen durch sie ausgedrückt werden könnte: durch die Gegenstände, die man benutzt und die alle noch da sind. Das Haus umgibt Marion. Es bewahrt Tasse, Löffel, Kamm, Lampe, Peters Hausschuhe in der Diele, im Schrank seinen Wintermantel, den Schal. Marion steigt die Treppe hinauf.
Sie betritt das Schlafzimmer. Sie setzt sich einen Moment aufs Bett. Sie berührt die Bettdecke, das Kopfkissen. Das Haus umschließt die Dinge und Marion. Es umschließt alles, golden und warm, ewig, aus der Zeit genommen. Museal. Schon vergangen. Schon einer Zeit angehörend, die geendet hat, beendet worden ist. Marion geht wieder hinunter. Vielleicht trifft morgen eine Bombe ihr Haus, vielleicht räumt es übermorgen die Gestapo aus. Im Wohnzimmer tanzt Staub im Sonnenlicht. Vor den Fenstern liegt das, was den Menschen nicht braucht. Was ohne ihn lebt und atmet: Blumen, Bäume, Erde und Himmel. Marion setzt sich in ihren Sessel, dem seinen gegenüber.
Sie sitzt in ihrem Sessel, während der Staub im versiegelten Haus tanzt, im Licht, das allmählich abendlich wird. Sie denkt an ihn,
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