Wer wir sind
solltest besser nicht gehen. Du darfst nicht gehen. Du darfst auf keinen Fall gehen. Du musst fort. Aber wo kannst du hin?«
Marion geht in ihr kleines Gästezimmer im ersten Stock. Sie packt ihre Zahnbürste ein, einen Kamm, ein kleines Stück Seife.
Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.
Charlotte und Tisa sind in Berlin. Gestapo-Kommissar Oldach hat ihnen Geld geliehen. Gauleiter Hildebrandt hat sie ziehen lassen. Sie sind soeben auf dem Lehrter Bahnhof angekommen. Die Bahnhofshalle ist von Bomben aufgerissen. Es ist fünf Uhr früh. Nur zu solchen Zeiten hat man noch die Chance, wenigstens einen Stehplatz in einem der heillos überfüllten Züge zu ergattern. Die Frage ist, was sie nun tun sollen.
Sie gehen nach Süden, ungefähr in Richtung des Volksgerichtshofs. Es ist ein strahlender Morgen. Heute findet der Prozess gegen Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg statt. Tisa sieht ihre Schwägerin an. Charlotte geht ganz willenlos, wie aufgezogen. Sie geht in die Richtung, in die Tisa führt. Auf den Trümmern der Krolloper rasten sie. Charlottes Gesicht hat überhaupt keine Farbe mehr.
»Und jetzt? Wo willst du denn eigentlich hin, Charlotte?«
»Lass uns einfach weitergehen, Tisa.«
Das tun sie. In der vergangenen oder der vorvergangenen Nacht muss hier ein schwerer Angriff gewesen sein. Eine Frausteht, die Arme in den Himmel gestreckt. Ein weinendes Kind sitzt allein, in verdreckter Schürze. Retter von Resthaushalten suchen zerbrochene Kaffeekannen aus den Ruinen zu bergen, Stühle ohne Sitz. Sanft angeschmiegt an eine Hauswand führt eine Treppe direkt in den Himmel. Kinder krabbeln an ihr hinauf und hinunter wie Insekten, beladen mit qualmenden Habseligkeiten. Üppig blüht ein Stück Sommergarten zwischen Trümmern, die ihre Bewohner schon letztes Jahr unter sich begraben haben. Ein Mann mit Kopfverband kommt ihnen entgegen, ein anderer, der auf einem Leiterwagen einen halben Schrank nach nirgendwo zerrt, russische Zwangsarbeiter, umgeben vom Leichengeruch der Verwesten, die sie aus den Kellern bergen. Charlotte sieht nicht aus, als ob sie noch lange durchhält. Tisa sagt: »Ich bringe dich ins Hotel Esplanade.«
»Aber wozu?«
»Und ich gehe dann in die Prinz-Albrecht-Straße.«
»Aber wozu?«
Marion Yorck steht vor dem Gitter in der Meinekestraße. Sie ist gleich morgens losgelaufen. Sie hat ihr Köfferchen mitgenommen, sie hat sich jede Begleitung verbeten. Wozu die Schwägerinnen hineinziehen? Sie klingelt. Das Gitter öffnet sich. Marion tritt ein. Das Gitter schließt sich hinter ihr. Marion geht die Treppe hinauf. Oben befindet sich ein weiteres Gitter. Das Gitter öffnet sich. Marion tritt hindurch. Es schließt sich hinter ihr. Marion geht den Gang entlang. Es ist ein langer Gang. An seinem Ende ist eine Tür. Marion passiert diese Tür, sie kann nun nur noch vorwärts gehen. Es gibt keinen Rückweg, niemals. Der einzige Weg hinaus ist der Weg hindurch.
»Marion Gräfin Yorck von Wartenburg?«
»Ja.«
»Sie sind verhaftet.«
»Ja.«
Ursula Kardorff hält die heutige Ausgabe der ›DAZ‹ in der Hand. Auf der letzten Seite steht die Todesanzeige.
Wolf-Werner Graf von der Schulenburg. Gefallen für Volk und Vaterland
Auf der Titelseite wird die Verhandlung gegen Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg angekündigt, den Verräter des deutschen Volkes.
Charlotte liegt im Hotel Esplanade auf dem Bett. Gleich nebenan befindet sich das Gebäude des Volksgerichtshofs. Charlotte hat das Gefühl, Fritzi nahe zu sein. Wenn er dort drüben ist, ist er ihr nah. Ist er dort? Tisa ist fortgegangen. Sie will herausfinden, wo Fritzi ist. Charlotte ist allein. Sie muss hierbleiben, sie darf sich nirgendwo zeigen. Sie steht unter Hausarrest. Charlotte legt die Hand an die Wand. Auf der anderen Seite ist Fritzi. Das möchte sie denken. Sie möchte fest glauben, dass sie nur durch ein paar Steine von ihm getrennt ist. Sie fühlt ihn, ganz nah.
Die Prinz-Albrecht-Straße hat offenbar einen Treffer abbekommen. KZ-Häftlinge sind damit beschäftigt, den Schutt wegzuräumen und Pappe vor die Fenster zu nageln. Ein Gestapo-Beamter kommt Tisa durch die Verwüstung entgegen.
»Verzeihung. Ich habe einen Brief für meinen Bruder, den würde ich gern abgeben.«
»Gehen Sie.«
»Aber mein Bruder steht heute vor dem Volksgerichtshof. Ich bin Elisabeth Gräfin von der Schulenburg.«
»Gehen Sie. So gehen Sie doch endlich! Los, gehen Sie!«Man hat
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