Wer wir sind
keiner heraus. Alles ist hinter Glas: Charlotte darf nicht wegfahren, nicht telefonieren, keinen Besuch empfangen. Abends nach dem Essen liest Mathias Wiemann Gedichte vor: der Schauspieler und ›Schatzkästlein‹-Leser, der über Jahre die Deutschen jeden Sonntagvormittag mit schöngeistiger Literatur vom Kriegsalltag abgelenkt hat. Charlotte mag es, wenn Mathias Wiemann liest.
Sie hört nicht zu. Sie hört nur die angenehme Stimme. Solange Mathias Wiemann vorliest, erwartet keiner von Charlotte, dass sie redet, dass sie zuhört. Gedichte helfen. Musik ist quälend. Musik erträgt sie nicht.
Am 14. August um halb sieben kommen sie und holen Helmuth Moltke. Sie dringen in seine Zelle im Gefängnisblock des KZ Ravensbrück ein.
»Aufstehen. Mitkommen.«
Sie legen ihm Handfesseln an. Alles ist klar. Man will ihmans Leben. Als er weit nach Mitternacht von der Polizeistation Drögen zurückgebracht wird, sind Übelkeit, Schüttelfrost und die kolikartigen Bauchkrämpfe verschwunden, unter denen er seit Tagen gelitten hat. Möglicherweise hingen diese Beschwerden mit Peter Yorcks Hinrichtung zusammen. Nun sind sie vergangen. Schließlich ist jetzt die Reihe an ihm selbst.
Marion Yorck sitzt auf ihrer Pritsche. Sie hat seit einigen Tagen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Es ist ihr gleichgültig. Die Zeit vergeht nicht, sondern wiederholt sich: Jeden Tag wandert ein Sonnenstrahl durch die Zelle, von Wand zu Wand. Manchmal weint jemand, in einer der Zellen. Manchmal brüllt und zetert eine Wärterin, oder man hört laute Worte eines Häftlings. Es berührt sie nicht. Jeden Tag schlägt das Sonnenlicht sein langsames Rad vom Morgen bis zum Abend, wenn es erlischt, um wiederzukommen. Marion träumt. Sie breitet die Arme aus: Sie umarmt ihr gelebtes Leben noch einmal. Nichts anderes ist zu tun. Der Zellentisch ist leer, das kleine Regal ist leer. Peter hat allen Raum. Sie ruft ihn, sie holt ihn zu sich, sie öffnet sich ganz. Am Tag, wenn das Lichtrad langsam durch die Zelle rollt, erinnert sie Peters Art zu lachen, zu reden. Sie erinnert den Moment des Abschieds, seinen letzten Satz auf der Schwelle in Weimar,
Jetzt muss ich wohl gehen
Sie geht von dort aus zurück. Sie wandert durch die Jahre, die sie miteinander gehabt haben, bis zu dem Moment, als er zum ersten Mal durch die Tür des Saales auf Schloss Mondschütz hereinkam und sich auf den Stuhl neben dem ihren setzte. Sie geht noch einen Moment weiter zurück.
Peter ist noch nicht da. Der Stuhl ist noch leer. Ist er leer, wie er auch jetzt leer ist, wie er von nun an immer leer seinwird? Niemals. Der Stuhl war leer, Peter kam herein. Er nahm Platz. Er sagte: Ich weiß, wo Sie wohnen.
Das weiß er noch immer. Er ist immer noch neben ihr. Er ist der Einzige, der sie hier findet. Er füllt den Raum ganz aus. Sie blättert mit ihm in den Büchern, die sie in ihrem Leben miteinander gelesen haben, sie geht mit ihm im kleinen Garten in der Hortensienstraße oder im großen Garten in Kauern umher. Hier ist kein Garten. Aber eine Birke steht vor dem Fenster. Marion sieht ihre Krone. Den Stamm sieht sie nicht: Am Fenster ist ein Blech angenagelt, so dass man nicht in den Hof sehen kann. Die Aufseherinnen wechseln ständig. Das ist gut. So muss sie sich ihre Gesichter nicht merken. Sie reißen das Bettzeug vom Bett, sie befehlen, das Bett neu und anders zu machen. Marion macht das Bett neu und anders. Sie hat Zeit. Sie geht mit Peter durch Kauern. Sie gehen tage- und tagelang, Hand in Hand, eng umschlungen.
Nachts träumt sie von ihm. Sie träumt von den Toten: Hannusch, Heinrich, Peter. Ihr Vater tritt zu ihr in die Zelle und streicht ihr über den Kopf. Peter kommt auf andere Weise. Sie gehen durch den kleinen Garten in der Hortensienstraße, durch den großen Garten in Kauern. Sie muss aufpassen. Sie muss sehr aufpassen. Sie darf ihn nicht ansehen, wenn er neben ihr geht. Sie muss sich zurücksinken lassen, zufrieden mit seiner Nähe. Er lacht leise, neben ihr.
Es hat an einem seidenen Faden gehangen, aber es ist alles gutgegangen.
Das sagt er, in einem ihrer Träume.
Sie erwacht mit diesem Satz. Es ist dunkel. Sie schläft wieder ein, geborgen in seiner Gegenwart. Sie darf ihn aber nicht suchen. Sie darf ihn nicht zu halten versuchen, er kann immer nur freiwillig kommen. Sie geht durch einen hellen Birkenwald. Sie hat nie einen solchen Wald gesehen. Oder doch, alsjunges Mädchen in Schweden? Es gibt kein Unterholz, nur die hellen Stämme, schimmernd in der
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