Wer wir sind
Schloss wohnen.
Die anderen Plätze am Tisch sind leer. Die Mütter, dieGroßmutter, Onkel Nux und Tante Hupa sind von der Polizei abgeholt worden. Das ganze Schloss ist leer, groß und leer, ein zu weit gewordenes Kleidungsstück: So fühlt es sich an, wenn Berthold am Tisch sitzt, wenn er in seinem Bett liegt.
Aber wenn er die Gänge des Schlosses durchstreift, bedrängt ihn die Enge. Die Türen links und rechts sind ja fast alle abgeschlossen und versiegelt. Die vertrauten Räume dahinter sind unbetretbar geworden.
Marion Yorck ist in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden, ins Hausgefängnis der Gestapo. Man hat sie in eine Zelle gesperrt, ohne sie zu vernehmen. Das Türblatt der Zelle ist wie bei einer öffentlichen Toilette im oberen und unteren Drittel ausgesägt, so dass man sehen kann, ob sie liegt oder steht oder sitzt. Marion läuft. Eine Glühbirne im Gang gibt trübgraues Licht. Marion läuft und läuft. Ihr Kopf ist leer. Das Gebäude über ihr lastet auf seinen Fundamenten. Marion läuft. Es sind ihr nur wenige Schritte möglich, dann muss sie umdrehen. Hin und wieder der langsame Schritt des Wärters. Sein ausdrucksloses Gesicht schwimmt in der grauen Düsternis wie Fettaugen in Suppe. Marion läuft.
Annedore ist in Moabit. Sie hat keine Bücher, kein Papier, keinen Stift. Sie hat nichts, mit dem sie die Stunden füllen, die Sinne sättigen, die Gedanken ablenken könnte. Sie hat nur die Verlangsamung der Zeit, den Stillstand der Zeit, ihr Ende in der Stille. Annedore muss alles zum Stillstand bringen. Sie darf nicht mehr hoffen, sie muss sich von der Zukunft verabschieden. In der stillstehenden Zeit kann man noch die winzigsten Kleinigkeiten, die unmerkbarsten Veränderungen bemerken, einzelne Atome in der Leere des Alls, Plankton in der Leere der See. Diese winzigsten Dinge muss sie bemerkenund sich an ihnen festhalten. Sie muss sich von ihnen nähren. Vielleicht wird sie dann nicht verrückt. Vielleicht erträgt sie dann die Einzelhaft, die Angst um Jüli, um die Kinder, die Todesangst, wenn Berlin bombardiert wird. Es zählt jetzt alles. Draußen zählt alles nichts. Draußen ist alles da, in überbordender sinnverwirrender Fülle, ein Strudel aus Dingen und Gerüchen, Menschen und Gesprächen, Klugheiten, Dummheiten, Wahrnehmungen, Informationen. Hier hat sich alles verengt. All die vielen Fäden und Fädchen, all die Stränge und Gänge der verschiedenen Handlungen, die durch ihr Leben mäandern, die parallel liefen, sich verschränkten, einander kreuzten und wieder voneinander ließen, sind nun zusammengefasst, gebündelt. Dies ist das Nadelöhr, durch das alles läuft, alles, vom Moment ihres ersten Atemzugs an.
Marion ist verlegt worden. Sie ist nicht mehr in der Prinz-Albrecht-Straße, sie ist nun in Moabit. Die Zelle ist größer, auch heller. Es gibt eine Pritsche, einen Tisch, einen Stuhl. Es gibt ein Fenster. Marion geht noch immer. Sie läuft eine Rhombe. Sie läuft wie eine Billardkugel: über die Bande, von der Tür zum Tisch, vom Tisch zum Fenster, vom Fenster zur Tür. Marion weiß nicht, was geschehen wird, wenn sie nicht mehr laufen kann. Wenn sie zusammenbricht. Sie hat Angst vor dem Moment. Sie sehnt ihn herbei.
Charlotte muss dies nicht glauben. Gauleiter Hildebrandt war auf Trebbow, um ihr zu sagen, Fritzi sei tot. Er kann aber falsch informiert sein. Die BBC hat behauptet, Fritzi wäre frei. Charlotte hat es selbst gehört: Hier ist England , dann das V des Morse-Alphabeths: dit dit dit dah , wie der Anfang von Beethovens ›Fünfter‹. Dann kam die Nachricht.
Soll sich Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg nach einemgeglückten Fluchtversuch wieder auf freiem Fuße befinden .
Abend für Abend schreibt sie an ihn. Es sind schon viele Briefe. Morgens richtet Charlotte sich sorgfältig her, als käme er zu Besuch. Sie hält ihr Zimmer und die Zimmer der Kinder sauber und in Ordnung, sauber und in Ordnung. Sie macht mit den Kindern lange Spaziergänge. Die Kinder sammeln Kastanien, Bucheckern und Eicheln, im Auftrag der Schule. Sie sammeln Altmetall. Der kleine Fritz sammelt begeistert: Er ist gerade erst in die Schule gekommen. Charlotte hat sich große Sorgen gemacht. Aber niemand hat ihn als Verräterkind beschimpft. Tagsüber erfüllt Charlotte ihre Pflichten. Abends schreibt sie ihre Briefe, jeden Abend einen. Sie lebt wie in einem Aquarium. Es gibt Fische darin: das Mädchen Klara, die Kinder, die Wiemanns, Tisa. Aber es kommt kein Fisch hinzu. Es kommt
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