Wer wir sind
lichten Dämmerung, regelmäßig wie von Menschenhand aufgestellt. Dann sieht sie Peter. Er geht vor ihr. Er taucht zwischen den Stämmen auf, dann ist er fort, er taucht wieder auf. Sie eilt ihm nach. Sie kann nicht an sich halten. Sie ruft seinen Namen. Er verschwindet. Marion erwacht. Das Morgenlicht ist grau, birkenstammgrau. Marion setzt sich auf. Sie spricht nicht, sie gibt nichts her. Sie behält alles: Die Träume. Die Stille. Das Rad der Tage. Sie verschließt die Dinge in sich, alles, was sie hat.
Davy Moltke sitzt in Klein Oels. Sie schreibt einen Bittbrief an den Führer. Ihr Bruder Peter ist als Verräter hingerichtet. Aber ihre Brüder Heinrich und Hannusch sind für Deutschland gefallen, und ihr Mann hat immerhin ein Staatsbegräbnis bekommen, im März des vergangenen Jahres. Der einzige ihr gebliebene Bruder ist Bia, und nun sind er und seine Frau in Sippenhaft genommen, ebenso wie Davys unverheiratete Schwestern Dorothea und Muto, ihre Mutter Goldchen und ihre Schwägerin Marion. Davy bittet in ihrem Brief den Führer, wenigstens die Mutter und die Schwestern zu entlassen. Davy sitzt in Klein Oels, ganz allein. Sie hat acht Kinder, zwei Jahre alt ist das Kleinste. Sie muss sich um Klein Oels kümmern, um Kauern. Sie muss sich um das Gut Wernersdorf bei Kreisau kümmern, bei dessen Verwaltung ihr bislang Peter und Helmuth James Graf von Moltke geholfen haben, aber auch Helmuth ist ja in Haft. Es ist hart, nicht in Haft zu sein. Es ist hart, frei zu sein, in diesem Land.
Marion sitzt in ihrer Zelle. Sie döst. Sie träumt, halb wach. In diesem Traum geht sie am Ufer des Meeres. Sie wendet den Kopf, und da auf einer Düne steht Peter, seine Gestalt leuchtenddunkel vor der Sonne hinter ihm. Sie bleibt stehen, sie wendet sich ab. Sie ist ganz still: Die Toten sind scheu, man darf sie nicht erschrecken. Eine unbedachte Bewegung, und man hat sie vertrieben. Marion wird wach. Sie sitzt auf ihrem Stuhl. Peter ist noch bei ihr.
Sie hat von ihm geträumt. Er stand im Garten in der Hortensienstraße. Sie versuchte nicht, sich ihm zu nähern: Er brannte. Sein ganzer Körper stand in hellblauen Flammen, sein Gesicht war aber nicht schmerzvoll. Es war verklärt, entrückt. Er sah sie nicht an. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Er sah nicht aus, als wüsste er, wo er sich befand, oder als sähe er sie. Aber sie konnte ihn betrachten. Sie durfte ihn ansehen, zum ersten Mal, nach Herzenslust. Der Morgen wandert weiter. Zeit vergeht.
In den letzten Tagen hat sie manchmal andere mit hineingenommen in die Zweisamkeit, die sie mit Peter teilt. Sie hat daran gedacht, wie sie auf Kreisau zusammengekommen sind, auf Kauern, in der Hortensienstraße. Sie hat an Helmuth und Freya gedacht, an Fritzi und Charlotte, an die Haeftens, die Trotts, an Ulrich Schwerin, Teddy Kessel, Harald Poelchau, die Stauffenberg-Brüder. Sie sind natürlich alle tot. Die Männer sind tot, und die Frauen werden sterben. Das Lichtrad wandert. Marion hat nichts dagegen zu gehen. Sie denkt nicht an die Hinrichtung, an die Schmerzen, mit denen der Tod vielleicht verbunden ist. Wozu daran denken? Der Schmerz ist kurz. Marion hat nichts dagegen zu sterben. Sie hat nichts dagegen, ganz in Peters Welt einzutreten.
Clarita hat den Verhandlungssaal gefunden. Sie hat eine Frau gefragt, und die hat ihr den Weg gewiesen. Heute wird Freisler über Bernhard und Johannes Georg Klamroth, EgbertHayessen, Wolf Heinrich Graf von Helldorf, Hans Bernd von Haeften und Adam von Trott zu Solz zu Gericht sitzen. Am entfernten Ende des Gangs sieht Clarita die beiden riesigen Saaltüren, wie der Eingang zum Weltengericht. Die Türen sind geschlossen. Davor stehen Wachposten. Clarita hat Werner gebeten, sie allein gehen zu lassen.
Sie hat keinerlei Hoffnung, in den Saal vordringen zu können. Aber allein kann sie sich vielleicht irgendwo verstecken. Sie hat sich versteckt, hinter einer Säule. Von hier aus müsste man die Gefangenen sehen können, wenn sie den Saal verlassen. Clarita denkt sich, dass Adam vielleicht mehrfach in den Saal hinein- und wieder aus ihm hinausgeführt wird: Er muss vielleicht als Zeuge aussagen, man wird ihn noch einmal zu seiner eigenen Vernehmung rufen, es wird sicher vor der Urteilsverkündung eine Pause geben. Sie lauscht. Von drinnen die hasserfüllte Stimme.
»Was machen Sie hier?«
Clarita fährt herum. Die Frau steht da, die ihr den Weg gezeigt hat. Sie steht vor Clarita, die Hände in die breiten Hüften gestützt.
»Was
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