Wer wir sind
Leber, Hans Dohnanyi, Just Delbrück, Dietrich Bonhoeffer sind verhaftet. Klaus schreibt an Emmi nach Holstein.
Es gibt nichts Neues.
Die Maßstäbe haben sich eben verändert.
Klaus kann mit niemandem mehr sprechen. Es ist keiner mehr da: Wer nicht verhaftet ist, ist geflohen oder tot. Klaus ist übrig. Wann werden sie ihn holen? Er geht einsam durch Straßen, die von Menschen wimmeln. In dieser Einsamkeit weiß er, dass er sterben wird: nicht notwendig jetzt, aber eines Tages, und was macht es dann, wenn es etwas früher geschieht?
Nur dass man bis dahin gut zueinander sein sollte. Dass man bis dahin, bis zu dem Moment, wenn die dünne Membran reißt, das zitternde Häutchen, das über den Abgrund gespannt ist, dass man bis dahin zueinander gut gewesen wäre. Darum geht es.
Meine Anschrift ist jetzt Konzentrationslager Sachsenhausen, Block R5b
Hans Dohnanyi liegt im Krankentrakt in einem Einzelzimmer. Max Geissler, Blockältester auf Block R II, ist zu seinem Pfleger ernannt. Er streicht seinem erschöpften Patienten über die Stirn, er gibt ihm zu trinken. Er tröstet ihn, wenn sie ihn von einer Vernehmung zurückbringen. Hans weint dann immer.Sie foltern ihn nicht: Sie wollen nicht riskieren, dass er ihnen wegstirbt. Er soll vorher reden. Er soll erst gesund werden, damit man ihn dann krankenhausreif schlagen kann. Immerhin können sie ihn seelisch quälen. Sie drohen, seine Frau, seine Kinder einzusperren. Er schweigt aber. Er sagt nichts. Er redet nicht, aber er weint. Er weint nach jeder Vernehmung. Manchmal lange. Schreiben kann er nicht. Geissler schreibt seine Briefe für ihn.
Mein süßer geliebter Liebling!
Es kommen keine Antwortbriefe. Vielleicht werden Hans’ Briefe gar nicht versandt. Wenn draußen auf dem Appellplatz größerer Lärm herrscht als sonst, fragt Hans, was geschieht. Max tritt ans Fenster. Er will nichts sagen. Hans besteht darauf. Also beschreibt Max die Hinrichtungen. Hans hört das Gebrüll der Tuberkulosekranken, die totgeschlagen werden, weil sie ein Brot gestohlen haben. Am 14. und am 16. September gehen endlich zwei Pakete durch. Hans erhält Mohrrüben, frühe Äpfel, Honig, Hartwurst. Er teilt alles mit Max. Am 22. September findet die Gestapo in Zossen Hans von Dohnanyis Aktensammlung.
Sie finden die Dokumentation der Umsturzvorbereitungen von 1938, 1939, 1940: Protokolle, Einsatzpläne, Adressen, lose Blätter. Es war Ludwig Beck, der darauf bestanden hat, den Trödel aufzubewahren. Er war der Ansicht, sie müssten später einmal beweisen können, zu welch frühem Zeitpunkt sie schon zum Umsturz entschlossen waren.
Das haben sie nun in der Tat bewiesen. Adolf Hitler kann es nicht fassen: Das Attentat ist nicht erst jetzt, wo sich das Kriegsglück vorübergehend gegen ihn gewandt hat, von ein paar missmutigen Geistern ersonnen worden? Man hat ihn schon zur Zeit seiner Siege gehasst, dermaßen gehasst, dass breite Kreise ihn töten wollten?
Keines dieser Dokumente darf an die Öffentlichkeit gelangen. Nichts darf in den Prozessen verwendet werden, nicht ohne ausdrückliche Genehmigung des Führers. Aber sterben sollen sie alle, sterben.
Am 30. September mittags parkt eine dunkle Limousine vor Klaus Bonhoeffers Haus in der Siedlung Eichkamp. Klaus macht kehrt. Er geht sofort zurück in die Stadt, in die Marienburger Allee 42 zu seiner Schwester Ursula Schleicher. Nun ist die Entscheidung nicht mehr aufzuschieben. Christel Dohnanyi, Ursel und Rüdiger Schleicher sitzen mit Klaus um den Tisch. Nun muss Klaus entscheiden, ob er flieht, sich verhaften lässt oder sich umbringt.
»Ich würde mich natürlich verhaften lassen, wenn ich Emmi und euch damit etwas ersparen könnte«, sagt Klaus. »Aber so ist es ja nicht. Seht euch die Schlangen vor den Gefängnissen an. Seht euch an, mit welcher Mühe die Familien ihre Verwandten verpflegen.«
Er geht im Zimmer auf und ab.
»Und will man fliehen? Einmal abgesehen davon, wie viel Aussicht man hätte, ihnen tatsächlich zu entgehen: Will man selbst frei herumlaufen, wenn Frau und Kinder eingesperrt werden? Also. Damit ist die Sache klar. Ich muss mich sofort umbringen.«
»Aber Klaus. Nein, das geht nicht. Der Krieg kann doch nicht mehr lange dauern. Klaus, der Selbstmord ist eine schwere Sünde. Klaus, sieh dir Dietrich und Hans an. Sie sind schon so lange in Haft. Es ist schlimm, ja, aber man kann doch hoffen, dass der Krieg endet, und sie kommen frei. Man muss doch hoffen können. Sie haben doch eigentlich nichts gegen
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