Wer wir sind
Vermerke, wie es dem oder jenem geht, was der oder jener gesagt haben soll. Die Frauen warten auf der Gefängnistreppe, bis sie aufgerufen werden. Dann geben sie ihre Gaben ab. Manchmal durchschneidet der diensthabende Beamte ein Brötchen und zerstört damit den Brief. Manchmal verweigert er die Annahmeeines Pakets. Die Frauen stehen in der Herbstdämmerung und warten darauf, dass man ihnen die leeren Blechdosen zurückgibt, in denen sich manchmal eine Dankesnotiz befindet. Sie warten, dass man ihnen die getragenen Kleider der Ihren zum Waschen überlässt.
Auch Edolf Reichwein ist inzwischen aus dem Zuchthaus Brandenburg zu den Sozialdemokraten in die Lehrter Straße überstellt worden. Letzte Woche hat man Romai seinen Anzug ausgehändigt. Der Anzug war innen voller Blut.
Romai hat Edolfs Anzug mit nach Kreisau genommen. Sie hat im Zug gesessen, mit dem blutigen Anzug ihres Mannes im Gepäck. In Kreisau hat sie eine Wanne mit Wasser gefüllt. Sie hat versucht, darin das Blut ihres Mannes aus dem Anzug zu waschen. Das Wasser in der Wanne färbte sich rot. Romai schrubbte. Das Rot wurde intensiver, dunkler. Romai nahm die Hände aus dem Wasser. Und Edolf kann nur noch flüstern.
Romai hat Edolf besucht. Sie hat ihn gesprochen, aber sie hat ihn kaum verstanden. Inzwischen weiß sie, was geschieht. Sie würgen ihn, und wenn er das Bewusstsein verliert, holen sie ihn mit kaltem Wasser zurück. Dann würgen sie ihn erneut. Edolf ist also schon viele Tode gestorben. Es genügt ihnen nicht, ihn nur einmal zu erhängen. Romai liegt nächtelang wach und grübelt, wie sie selbst Hitler umbringen könnte. Oder sie könnte vor den Volksgerichtshof treten und ihnen allen die Wahrheit sagen. Wie wollen sie der Wahrheit widerstehen? Wie wollen sie es ertragen, wenn Romai ihnen ihre furchtbaren Verbrechen entgegenschleudert?
Oder Romai könnte ein Kind opfern.
Sie könnte Gott ein Kind anbieten. Er dürfte sich eines der Kinder aussuchen, wenn Romai dafür ihren Mann wiederbekäme. Gott könnte zum Beispiel Sabine nehmen. Romai istnoch nicht so stark an Sabine gewöhnt. Sabine ist die Jüngste, sie ist erst drei. Sie kennt sich noch kaum selbst. Sie hat noch keine tiefen Wurzeln geschlagen. Wenn Gott Romais Mann wieder freigeben würde, dann könnte er sich dafür Sabine nehmen.
Mädy Freytag von Loringhoven ist ebenfalls entlassen worden. Marion ist allein im Gefängnis zurückgeblieben. Und man hat sie verlegt. Man hat ihr eine neue Zelle zugewiesen. Die neue Zelle ist schöner. Sie ist heller, größer, Marion dreht das Gesicht zur Wand. Sie will das fremde Licht nicht sehen. In der alten Zelle hat sie mit Peter gelebt, und mit Mädy. In der neuen ist sie vollkommen fremd. Es ist Oktober. Marion kann nicht sehen, wie ihre Birke vor ihrem Fenster golden wird. Sie hat nun gar nichts mehr. Sie wendet den Blick nach innen. Dort ist immer noch Peter.
Charlotte von der Schulenburg lebt in Trebbow. Sie darf niemanden sehen, niemandem schreiben, nicht telefonieren. Nur hin und wieder dringt etwas zu ihr: der Name eines weiteren Toten. Die Namen der Toten rasseln in der Leere, trockene Knochen in einem Beutel. Fritzis Name ist nicht darunter. Dann kommt der Brief. Es ist ein gedrucktes Formular. Die Daten sind mit der Maschine eingetippt.
Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg
Hoch- und Landesverrat
Tod durch den Strang
Das Urteil wurde …
Drei Punkte. Das Urteil wurde. Vollstreckt? Umgewandelt in Erschießen? Aufgehoben? Alles ist sofort wieder möglich. Wie sollte nicht alles möglich sein, wenn es um Fritzi geht? Gott selbst kann eingegriffen haben.
»Ich fahre nach Berlin.«
»Ich komme mit, Charlotte.«
»Nein, Tisa. Nicht nötig.«
Charlotte hat eine Weile warten müssen, im Vorzimmer von Oberstaatsanwalt Görisch am Volksgerichtshof. Es war aber nicht übertrieben lange, weniger als eine Viertelstunde vielleicht. Nun bittet man sie herein.
»Frau Gräfin. Verzeihen Sie bitte die Wartezeit.«
»Ich wollte mich nach meinem Mann erkundigen. Ich habe einen Brief bekommen, sehen Sie. Einen Brief, der mich ganz im Unklaren lässt.«
Der Staatsanwalt wirft einen Blick auf das Formular. Sie atmet nicht. Er hebt die Brauen, schüttelt den Kopf.
»Aha, Frau Gräfin. Ich sehe. Sie müssen vielmals verzeihen. Ein bedauerlicher Fehler des Kanzleipersonals.«
Sie hätte Brom nehmen sollen. Ihr Herz stolpert. Sie hält sich an der Stuhllehne fest.
»Die Überlastung, Sie verstehen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Die
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