Wer wir sind
seinem Gut spazieren. Einmal lacht er lange über ein paar englische Verse, die ihm eingefallen sind. Trotz alledem überfällt ihn einmal am Tag eine starke Unruhe. Was hat man mit ihm vor, wie wird es enden? Soll er wirklich nie wieder Kreisau sehen, die Söhnchen? Soll er nie wieder in seinem Bett schlafen, nie wieder auf seiner Veranda stehen? Wie lange wird er hier im Dunklen sitzen? Er beginnt dann zu singen, meist Kirchenlieder, die sie in Gräditz in der Kirche zusammen gesungen haben. Er sagt sich, dass ein Weg, dessen Länge man nicht kennt, einem immer meilenlang vorkommt.
Er sagt sich, wie schön es war, bis hierher gegangen zu sein.
Er erzählt sich, wie schön sein Leben war und wie begünstigt vom Glück. Was hat er alles sammeln dürfen. Wie arm und elend sind doch viele Menschen, wie sehr bedürftig seines Mitleids. Wie arm sind auch die, die ihm ans Leben wollen: Keiner von ihnen hatte Freya. Keiner von ihnen kann etwas von dem wissen, was er weiß. Nun, sie hatten ihr Leben. Er hatte seines. Er wandert auf den Kapellenberg, zum Grab seiner Mutter. Er steht auf der Veranda des Berghauses. Die Unruhe quält ihn nun nur noch jeden zweiten Tag. Dann bleibt sie ganz aus. Er lebt von Sekunde zu Sekunde. Er gestattet sichkeinen Blick nach vorn mehr. Er lässt den Blick weit über die Rübenfelder von Kreisau schweifen, bis zu den fernen Hängen des Eulengebirges, die die Abenddämmerung violett färbt. Er betrachtet Freya, schlafend, ihr Haar über die Kissen gebreitet. Er betrachtet sie, wie sie Kirschen pflückt, Brot schneidet, eine Buchseite umblättert, ein Kind auf die Hüfte hebt. Sie sieht ihn an. Er spürt, wie sie ihn ansieht. Er weiß, ihr Blick weicht keinen Augenblick von ihm. Dankbarkeit erfüllt ihn. Er hält Ernte. Er ist ein reicher, reicher Mann.
Anfang September gibt man ihm seine Bibel zurück. Er darf nun wieder einmal am Tag eine Stunde lang im Freien spazieren gehen. Und er hat Arbeit: Er zählt und bündelt polnische Geldscheine.
Das hat er noch nie getan: Geld bündeln. Er findet es rasend komisch. Er denkt, während er Geld bündelt, an seine Mutter. Er denkt an Freya: Nun steht sie auf, nun geht sie nach unten. Nun fährt sie mit Zeumer und Pferd und Wägelchen über die Felder. Nun tappeln oben die kleinen Füße der Söhnchen. Ob es so ist? Dies ist sein Erntemonat. Am 12. und gleich darauf noch einmal am 18. September erlaubt man ihm, an Freya zu schreiben. Was für ein lang entbehrter Genuss.
Freya hält die Briefe in der Hand. Es sind Abschiedsbriefe.
Um Dich mache ich mir keine Sorgen, wie es wohl eigentlich meine Pflicht wäre. Aber ich kann nicht. Ich habe so fest das Gefühl, dass Du alles meistern kannst. Du bist nie ein Sorgenpunkt, sondern der Quell meiner Dankbarkeit, Zuversicht und »Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei«.
Und wer hat ihn verraten? Wer hat der Gestapo seinen Namen genannt? War es vielleicht Edolf Reichwein? War es Peter Yorck, Adam Trott? Julius Leber? Es ist egal. Wenn die Alliiertensich nicht sehr mit dem Siegen beeilen, wird man Freyas Mann töten. Das Berghaus ist mit Kindern voll belegt. Das Schloss quillt über von Flüchtlingen aus den bombardierten Städten. Freya fährt mit Zeumer über die Felder, sie besprechen die laufenden Probleme auf dem Hof, Freya läuft zur Spielschule hinunter und sieht nach dem Rechten, alles wendet sich an sie. Alles will wissen, was zu tun ist: Freya muss es wissen.
Sie weiß es auch. Sie weiß, was zu tun ist. Es ist der 28. September. Ein Donnerstag. Der 26. war ein Dienstag. Ein Brief hätte kommen müssen. Helmuth hat ihr geschrieben, dass nur noch einmal in der Woche Post befördert wird, und das ist eben am Dienstag, Freya hat aber keine Post bekommen. Sie wird jetzt nach Ravensbrück fahren. Sie hat keine Sprecherlaubnis. Aber sie kennt die SS-Männer dort. Sie werden ihr sagen, was los ist. Diese Leute machen, was sie wollen. Sie halten sich an keine Regeln. Sie sind wie kleine Kinder, die niemand zum Menschsein erzogen hat: In einem Moment bedauern sie dich für das Pech, das du mit den Gänsen hattest, im nächsten reißen sie dir die Fingernägel heraus. Und gleich danach sind sie wieder anders gestimmt und erlauben voll Großzügigkeit, was an sich nicht zu erlauben ist.
In Drögen hat man Freya wie immer herzlich empfangen.
»Ach wie günstig, Frau Gräfin. Ihr Mann ist nach Berlin verlegt worden, in die Lehrter Straße.«
Lehrter Straße. Edolf Reichweins blutiger Anzug.
»Da können
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