Wer wir sind
durchzuschlagen, muss sie dochnächstes Wochenende sicher wieder zurück. Aber wenn sie zurückgeht, reißt die Verbindung ab. Dann zünden die Russen womöglich Kreisau an, bevor Freya noch erfahren hat, dass er tot ist. Er wird nicht wissen, dass sie von seinem Tod erfahren hat. Das ist schwer erträglich. Kommt sie überhaupt? Vielleicht bleibt sie in Kreisau. Und wenn jetzt das Ende des Krieges begonnen hat, heißt das, er könnte womöglich doch überleben? Werden ihn die Russen befreien?
Und was, wenn die Russen schon bei Oppeln über die Oder gehen? Dann würde Kreisau Front. Freya, Asta und Frau Pick haben die untere Etage des Berghauses leer geräumt, als Zuflucht für fünfundzwanzig Flüchtlinge. Schloss und Dorf erwarten weitere dreihundertfünfzig Menschen. Am Montag reist Freya nach Berlin zurück.
Aber dies ist das letzte Mal. Ihr Platz ist jetzt in Kreisau, es sei denn, Helmuth verlangt, dass sie Kreisau räumt und mit den Kindern nach Berlin kommt. Aber das kann sie sich nicht vorstellen. Es wäre falsch, sich mit den Söhnchen vom Flüchtlingsstrom hinwegreißen zu lassen. Freya sieht doch die große Not der Flüchtenden, in der furchtbaren Kälte. In Liegnitz auf dem Bahnhof sind Koksöfen aufgestellt worden. Milch wird ausgegeben, Suppe. Überall Mütter mit kleinen Kindern, mit Kinderwagen im tiefen Schnee. Und die überfüllten Züge fahren durch die Bahnhöfe durch, ohne zu halten.
Wo ist Freya? Wo ist seine Frau? Am Montag wollte sie zurück sein, aber Helmuth hat nichts von ihr gehört. Am Dienstag morgen schreibt er an sie. Die Wachtmeister erzählen ihm, dass viele verstörte Frauen und Kinder aus Breslau angekommen seien, wo die Zustände fürchterlich sind. Wo mag Freya stecken?
Sie ist hier. Der Wachtmeister bringt Helmuth Semmeln und Schlagsahne. Freya ist da, und Helmuth ist ganz beruhigt. Es ist Dienstag, der 23. Januar, zehn Uhr früh. Harald Poelchau bringt Helmuth Freyas Brief, und er nimmt Helmuths Brief mit hinaus. Helmuths Augen wandern über Freyas liebe Zeilen, mit großem Entzücken.
Liebe, Liebe, Liebe, mein Herzensjäm; immer bleibe ich Dein P. Ich trug Dich so fest bei mir. Das war sehr schön zu fühlen.
Und sie hat versprochen, ihm heute noch einen weiteren Brief zu schreiben.
Das wird Freya auch tun. Sie muss nur erst organisieren, wer Helmuths Wäsche wäscht, wenn sie in Kreisau ist, wer ihn mit Essen versorgt und woher das Essen kommen soll. Es ist Dienstagmittag, als sie alles unterbricht, sich an Harald Poelchaus Schreibtisch setzt und noch einmal an Helmuth schreibt. Es sind noch so viele sachliche Fragen zu klären. Es geht um Müller, um Himmler, um weitere einzuschlagende Rettungswege,
Und nun bleibt die große Frage: Soll ich nach Kreisau zurück? Kann ich hierbleiben? Soll ich die Jungen holen? Eigentlich kann ich das schon nicht mehr. Der Hauptsinn der Zugbeschränkung ist ja gerade die Abstoppung des Flüchtlingsstroms.
Freya hört den Schlüssel in der Tür, dann Harald Poelchaus Schritte. Sie muss sich beeilen, dann kann Harald den Brief nachher gleich mitnehmen.
Welche Entschlüsse! Die zu Hause rechnen auch damit, dass ich gleich wieder zurückkehre. Jedenfalls werde ich mir jetzt noch eine Sprecherlaubnis besorgen
»Freya.«
Harald steht in der Tür. Freya hebt den Kopf. Sie bricht den Brief ab.
Am 23. Januar 1945 um 14 Uhr wird Helmuth James Graf von Moltke in Plötzensee gehängt, zusammen mit Carlo Mierendorffs Freund Theo Haubach, Julius Lebers Freund Ludwig Schwamb, dem christlichen Gewerkschafter Nikolaus Groß, dem Zentrumspolitiker Eugen Bolz, dem Monarchisten Franz Sperr und dem Staatssekretär a. D. Erwin Planck.
Zwei Tage später verlassen Freya Moltke und Marion Yorck gemeinsam Berlin. Sie fahren nach Kreisau. Dicht nebeneinander sitzen sie auf ihrem Holzbänkchen in der dritten Klasse. Sie fahren nach Osten, gegen den Strom der Flüchtlinge an, die vor der vorrückenden russischen Front fliehen. Sie sind beide ganz heiter. Sie sind auf die Gegenwart konzentriert: Aber sie tragen ihre Männer bei sich.
Du bist mein 13tes Kapitel des 1. Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, aber ich hätte »der Liebe nicht«. Ich sage gar nicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde.
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend
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