Wer wir sind
ganzen Klasse geschrieben. Sie hat ihn heute vorlesen dürfen. Es war eine verdiente Auszeichnung. Libertas Haas-Heyes Aufsatz war wirklich der beste, das weiß Libs genau, auch das Vorlesen hat wunderbar geklappt. Alle haben ihr applaudiert. Die Lehrerin hat gelächelt und gelobt.
»Eine sehr schöne Leistung, Libertas. Beeindruckend die Begeisterung und die Tiefe der Empfindung.«
Libs musste sich von innen auf die Backen beißen, um nicht zu sehr zu strahlen. Ihre Backen glühen noch immer: Sie kann die Wärme spüren. Sie hat aber schon während des Lesens gespürt, dass alles klappen würde. Die anderen in der Klasse haben ihr zugehört, sogar Hetti Gebler, die immer deutlich zeigt, dass sie Libs nicht leiden kann, entscheidend ist aber nicht Hetti Gebler.
Entscheidend ist die Sechsergruppe. Sophie Sell aus der Sechsergruppe hat Libs angelächelt, während Libs an ihren Platz zurückgekehrt ist. Sophie Sell aus der Siebenergruppe: So wird die Gruppe heißen, wenn Libertas Haas-Heye dazugehört. Sie will dazugehören. Ihre ersten Lebensjahre hat sie auf Schloss Liebenberg im Löwenberger Land verbracht, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Berlin. Aber ihr Schweizerdeutsch ist inzwischen perfekt. Sie hat die Zürcher Privatschule Dr. Goetze besucht, und nun hat sie die Aufnahmeprüfung für die Städtische Töchterschule Zürich bestanden. Seit Anfang des Jahres wohnt sie als Pensionärin im Haus der Sells.
Sophie Sell ist ihre Freundin. Sie hat Libs auch mit zu den Pfadfindern genommen. Am Wochenende fahren sie nun immer alle zusammen in die Berge zum Zelten. Sie streifen gemeinsam durch die freie Natur, sie singen gemeinsam am Lagerfeuer, und Sophie spielt dazu Schifferklavier. Libs hat ihrem Vater geschrieben, dass sie sich auch ein Schifferklavier wünscht. Sophie spielt nicht besonders gut. Aber Libs wird gutspielen. Libs faltet die Hände auf ihrem Pult, sie verschränkt die Füße unter dem Stuhl, vielleicht wird sie Sophie heute Nachmittag das Gedicht zeigen, das sie geschrieben hat. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht wird sie es niemandem zeigen, sondern es gleich an eine Zeitung schicken,
Courte et bonne möchte ich das Leben
Stets voll heißem, grossem Streben,
Aufwärts zur Vervollkommnung.
Kämpfen, fallen, unterliegen –
Aber immer vorwärts gehen.
Todesmutig streitend, siegen –
Aber niemals stille stehen.
Das ist gut. Das ist eine gute Idee. So wird Libs es machen. Sie wird das Gedicht an die Zeitung schicken. Die Zeitung wird Libertas’ Gedicht drucken. Und dann wird Libs dem Sechserclub die Zeitung zu lesen geben. Dem Siebenerclub.
Voll genießen alle Tage,
Edle Herzen, die Natur.
Ganz durchleiden jede Plage,
Aber leben, leben nur!
Libertas reitet über Liebenbergs Wiesen. Sie ist neunzehn. Sie reitet durch den Liebenberger Park, hinunter zum See. Sie lässt das Pferd traben, dann galoppiert sie, der Wind strömt ihr entgegen, und sie lockert die Zügel, Libs könnte jubeln. Ihr ist, als könnte sie sich aufschwingen, hoch hinaus. Als könnte sie fliegen, fort von hier in die Weite, in die Ferne, zu einem wilderen Horizont,
über meiner heimat frühling
seh ich schwäne nordwärts fliegen
ach mein herz möcht sich auf grauen
eismeerwogen wiegen –
Libs ist unterwegs von Schloss Liebenberg zu dem Besitzteil Häsen hinter den Lankebergen. Sie durchquert die Kiefernwaldung, den Modderfenn hinter der Großen Lanke auf dem Mückendamm, dann beginnt der Urwald: eine sumpfige Landschaft aus Teichen und verlandenden Fenns, Ausläufern der Seen, durchwachsen von Erlen, Schilf und Wiesenblüten, wo es Bekassinen gibt, Eisvögel. Im Herbst fallen hier Schwärme von Wildgänsen ein. Libertas liebt diese Landschaft. Sie liebt Liebenberg. Sie kommt oft am Wochenende nach Liebenberg, um zu schwimmen, zu reiten und ihrer Mutter nahe zu sein, die mit der alten Fürstin in den Gemächern über der Nordischen Halle im Schloss wohnt. In Liebenberg ist Libertas’ Zuhause: hier, wo sie nur die allerersten Lebensjahre und die Schulferien verbracht hat und wo ihr kein Stein, kein Brett, keine Schindel gehört. Libertas Haas-Heye ist in Paris geboren, als Enkelin des Fürsten Philipp zu Eulenburg und Hertefeld.
Phili Eulenburg, wie man ihn nannte: Hofmarschall und engster Vertrauter Kaiser Wilhelms II. seit dessen Jugendtagen, Dichter der ›Rosenlieder‹, Träumer und Spiritist, von Neidern und verhärteten Gemütern als Graf Troubadour bespöttelt und schließlich von Maximilian
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