Wer wir sind
Harden mit dem Vorwurf vernichtet, ein homosexuelles Verhältnis zum Kaiser zu unterhalten. Der Kaiser hat sich nicht etwa schützend vor den Freund gestellt. Er hat sich sofort von ihm abgewandt. Diese Kälte, diese Untreue, diesen Verrat hat der Fürst bis zu seinem Tod nicht verwunden.
Er ist 1921 gestorben, in ebendem Jahr, in dem Libertas endlich ihren Vater kennengelernt hat. Libs war ja noch kein Jahr alt, als der Weltkrieg ausbrach. Der Modeschöpfer und Lebemann Professor Otto Haas-Heye organisierte damals gerade eine Werkbund-Ausstellung in Bern. Er blieb in der Schweiz,bis der Krieg vorbei war. Nach seiner Rückkehr ließ er sich von Libs’ Mutter scheiden, gründete die Mode- und Kostümabteilung des Staatlichen Kunstgewerbemuseums in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße und holte seine Kinder zu sich nach Berlin: erst Johannes, dann Ottora und schließlich auch die kleine Libertas.
Sie wohnten bei seiner Mitarbeiterin Valerie Wolfenstein, die sie häufig in die Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums mitnahm. Libs hat ganze Tage auf den weitläufigen Fluren der Prinz-Albrecht-Straße 7 und 8 gespielt, bevor die Anstalt sich mit der Hochschule der Bildenden Künste zu den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst zusammengeschlossen hat und in die Hardenbergstraße 33 umgezogen ist.
Sie erinnert sich an den Klang ihrer Stimme in den hohen Räumen. Sie erinnert sich an das Licht in den Ateliers, deren Fenster geneigt waren, so dass man die Straße nicht sah, sondern nur das Licht des Himmels. Sie erinnert sich daran, wie der Vater nach Paris ging und die Kinder verteilt wurden: Johannes wurde auf ein bayrisches Internat, Ottora auf eine Haushaltsschule nach Potsdam und die kleine Libs zu einer befreundeten Familie nach Zürich gegeben, wo sie sechs Jahre später ihr Abitur gemacht hat. Danach hat Libs eine Weile in England gelebt. Und nun ist sie wieder da.
Nun ist sie nach Liebenberg zurückgekehrt, in die Geborgenheit ihrer ersten Jahre. Natürlich nur besuchsweise: Libs ist Pressereferentin der Berliner Niederlassung der Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer, sie bewohnt eine hübsche helle Atelierwohnung unweit des Kurfürstendamms.
Libs reitet über den Liebenberger Schlosshof. Sie reitet die Dorfstraße hinunter, an den kleinen ebenerdigen Hütten vorüber, in denen die Deputanten leben. Sie ist unterwegs zum Seehaus,einem zweiten Schloss, das direkt am Ufer der Großen Lanke liegt, eine gute halbe Stunde Fußmarsch vom Hauptschloss entfernt. Fürst Philipp hat es für seinen Sohn Friedrich zu dessen Hochzeit erbaut: für Libs’ Onkel Büdi und seine Frau, Onkel Büdi ist Schlossherr auf Liebenberg.
Sein Sohn Wend hat eine Weile bei Libs in Berlin gewohnt, während seines Volontariats bei einer Bank. Wend ist nur fünf Jahre älter als Libs. Aber er war von allem schockiert: von den flirtenden Mädchen, den unernsten Jünglingen, dem lockeren Ton, der ganzen Berliner Libertinage, in der seine Base lebt, Wends Schwester darf beim Fünfuhrtee im Hotel Esplanade nicht einmal an den Rand der Tanzfläche treten. Aber Libs ist immer unterwegs.
Sie knüpft ständig neue Bekanntschaften. Sie besucht Konzerte und Dichterlesungen, Diskussionsrunden und Vorträge. Sie geht zu Kostümbällen und ins Kino, zu Tanzereien und ins Theater. Wo Libs erscheint, wird sie umschwärmt und umgirrt: Libertas mit ihren dichten Haaren, ihren dichten Wimpern, Libertas mit den Grübchen, dem auffordernden Blick, den wie geschwollenen Lippen, Libs arbeitet für den Film, sie schreibt Gedichte. Sie trägt Bermudahosen und raucht ein Damenpfeifchen. Libs lacht. Sie lockt. Sie duldet keine Distanz. Libs ist überall dabei, glühender Mittelpunkt, wo immer sie auftritt. Wend war empört zu sehen, mit was für Leuten sie sich umgibt: Künstler, Fabrikantensöhne, dichtende Nichtstuer und Anhänger der Russen, Wend seinerseits ist im Frontkämpferbund engagiert, dem Stahlhelm .
Er wird der nächste Schlossherr sein. Onkel Büdi hat ihm bereits die Verwaltung der Landwirtschaft übergeben, vielleicht hat Wend ja sogar recht, wenn er sich empört. Libertas denkt das manchmal. Es bleibt ein Element des Unverpflichtenden in allem, was Libs tut. Libs ist umgeben von unverpflichtendenLeuten. Sie steht inmitten eines Netzes unverpflichtender Beziehungen, die süß und hübsch anzusehen sind wie Desserts, aber ernähren kann man sich nicht von ihnen, Libs singt zu ihrem Akkordeon. Sie singt das Lied von den alten
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