Wer wir sind
mit Bekenntnissen auf den Hals rückt und ihn als Müllabladeplatz missbraucht, all das angeblich Authentische ist in Wirklichkeit nichts als Selbstinszenierung. Zubevorzugen sind Menschen, die sich die Hände waschen, ihre Hose zuknöpfen und eine gewisse Selbstdisziplin an den Tag legen. Sich heiter erhalten, das ist die Devise. Nonchalance zeigen. Nichts setzt einen Menschen mehr herab, als wenn er sich zur Kreatur macht.
Nichts setzt einen Menschen mehr herab, als sich wie ein Sklave der Mentalität der Sieger zu unterwerfen, nachdem man schon auf dem Schlachtfeld niedergeworfen worden ist. Muss man sich nun auch noch demütig das Denken, die Demokratie, die Vokabeln, die Vorstellungen von Recht und Unrecht von den Siegern diktieren lassen? Die Demokratie ist nicht deutsch. Die Parteien sind überhaupt keine organische Volksvertretung, sondern nur wirtschaftliche Interessengruppen, bereit, ihre weltanschaulichen Linien in jedem Kuhhandel zu verraten. In ihnen herrschen die Plutokratie und die Gerontokratie: die alten Männer und das Geld, und entsprechend gibt es dort nichts als Zank und Geklüngel und nutzloses Gekeile. Die deutsche Jugend ist nicht in Parteien organisiert, sondern in Bünden: in verschworenen Gemeinschaften, denen es um Treue und Ehre, Zusammenhalt und Opfermut geht. Um Gerechtigkeit, um die Einheit. Harro hat Großonkel Alfred von Tirpitz darüber einen schönen Brief geschrieben.
Harro in der grauen Windjacke, mit dem weißen Koppel des Ordens: Er hat dem Onkel erklärt, dass alle Parteien abgeschafft werden müssen. Man muss endlich damit aufhören, Menschen nach Rang, Stand, Besitz oder Parteienzugehörigkeit einzustufen. Die besten Leute sollten vereint nach Lösungen suchen, die besten Köpfe von links bis rechts, vereint in einer einzigen Bewegung. Eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede, ohne Konflikte, ohne Parteien muss entstehen, wenn Deutschland zu seiner einstigen Größe gelangen soll. Und dafür müssen das Nationale und das Soziale miteinander versöhnt werden.
Das Problem dabei ist, dass das Bürgertum den Begriff des Nationalen für sich allein in Anspruch nimmt, schreibt Harro an den Großonkel. Jeder Sozialdemokrat, jeder Kommunist, jeder Arbeiter wird als vaterlandsloser Geselle abgetan. Wie soll da der Arbeiter lernen, national zu denken? Wie soll die große politische Einheit hergestellt werden?
Admiral von Tirpitz hat zurückgeschrieben. Der Mitgründer der Deutschnationalen Volkspartei, von 1924 bis 1928 Mitglied des Reichstags: Er liebt Weimar und seine Parteien auch nicht,
Aber die Gegensätze sind da. Rechts und links, arm und reich, schwarz weiß rot und schwarz rot gold. Und man beseitigt Gegensätze nicht, indem man ihre Beseitigung proclamiert.
Aber der Onkel ist alt. Harro ist jung. Die Zeit des Onkels ist vorbei, bei allem Respekt. Jetzt ist Harro an der Reihe.
Es ist das Jahr 1928, und Harro ist mit der Schule fertig. Er hat sein Abitur in der Tasche, er studiert in Freiburg Jura,
Student sein, wenn die Humpen kreisen,
In lieberschloss’nem Freundesbund
Von alter Treue bei den Weisen
Der Väter jauchzt der junge Mund!
Harro ist in die Albingia eingetreten, eine schlagende Verbindung natürlich. Er verachtet die Friedensduselei der deutschen Pazifisten, er ist kein Freund der Ossietzkys und ›Weltbühne‹-Tucholskys und dieser ganzen undeutsch-schlappen Chose. Harro ist kämpferisch. Er kann sich nicht mit der Plebejermoral eines Europa anfreunden, das zwischen Russland und Amerika eingeklemmt winselt: Tretet mich, aber lasst mich leben. Europa muss seinen eigenen Weg gehen.
Deutschland muss seinen eigenen Weg gehen. Harro verachtetvon jeher die englischen Händlerseelen, den angelsächsisch-jüdischen Kapitalismus. Er hat einmal seine Ferien in einer englischen Gastfamilie verbracht. Er kann aus eigener Anschauung sagen, dass die Engländer ihr Parlament selbst gründlich leid sind, aber sie sind einfach zu schlaff, um etwas dagegen zu unternehmen. Harro hört Vorlesungen über Literatur, Graphologie und Psychiatrie. Er ficht wacker Mensur, sticht den Gegner mit Schmissen ab, wird 1. Chargierter, fährt Ski, bummelt durch Freiburg und vermasselt leider den Staatsrechtsschein. Er sitzt mit Corpsbrüdern auf dem Haus und spielt Bridge, er liest ›Das Dritte Reich‹ von Moeller van den Bruck und Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹, und als der Frühling kommt, streift er die Provinz ab, steigt aus allem aus und zieht nach
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