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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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wissen es. Die Mutter hat ihnen eingeschärft, sich an der Grenze schlafend zu stellen, damit die Grenzbeamten Erbarmen haben und den Wagen nicht durchsuchen. Marianne legt sich zurecht und schließt die Augen. Dann öffnet sie sie noch einmal, um zu kontrollieren, dass auch Christiane sich zurechtgelegt und die Augen geschlossen hat. Der Wagen verlangsamt die Fahrt.
    Dann hält er. Dies ist die deutsche Seite. Eine Männerstimme sagt etwas, was Marianne im Motorenlärm nicht verstehen kann. Sie blinzelt. Dann kneift sie schnell die Augen wiederzusammen: Männer in Uniform umstehen den Wagen. Marianne dreht das Gesicht so, dass es fast unter einer roten Tasche verschwindet, die unter das Verdeck geklemmt ist. Sie hört den Vater antworten, in scherzendem Tonfall, dann fährt der Wagen wieder an. Marianne schläft weiter. Die Mutter hat es so angeordnet: schlafen, bis die Entwarnung kommt. Sie fahren. Sie sind nicht mehr in Deutschland. Sie sind aber auch noch nicht in der Schweiz. Marianne blinzelt. Es ist stockdunkel. Sie fahren. Dann hält der Wagen wieder.
    Wieder eine Männerstimme, aber diesmal mit einem Akzent, dies ist die Schweizer Seite. Marianne blinzelt. Es scheint ihr nicht so gefährlich, auf dieser Seite zu blinzeln. Christiane schläft jetzt wirklich. Der Vater hebt grüßend die Hand an den Hut, dann fährt er an. Das Auto fährt. Es fährt über den Grenzstreifen, hinein in das andere Land, wo man frei ist, die Mama dreht sich um. Sie lächelt. Sie sagt: »Es ist in Ordnung, Mariannchen, du kannst die Augen aufmachen.«
    Marianne setzt sich auf. Sie streckt die Arme, sie reckt den Kopf, sie legt die Hände um den Hals der Mutter.
    »Vorsicht! Wackle nicht, das Gepäck.«
    Sie lachen.
    »Wir halten gleich einmal an und schließen das Verdeck, dann wird es wärmer.«
    Sie sind nun frei. Die Schweiz ist ein freies Land. Sie bleiben vorerst hier und warten ab, was in Deutschland passiert. Das haben die Eltern mit Onkel Dietrich besprochen. Etwas soll passieren. Marianne weiß nicht, was es ist. Die Mutter hat gesagt, es könnte sein, dass sie in ein paar Wochen wieder zurückkehren. Marianne glaubt nicht daran. Sie weiß auch gar nicht, ob sie es will. Sie sind nun hier. Der Abschied ist vollzogen. Marianne weiß nicht, ob sie noch einmal hinter diesen Abschied zurückgehen möchte.Es hängt jetzt alles vom Ausland ab. England muss hart bleiben. Die Briten müssen Hitler zwingen, seine Karten auf den Tisch zu legen. Sie dürfen in der Sudetenfrage nicht nachgeben, sie dürfen Hitler nicht wieder willig servieren, was er verlangt. Sie müssen es auf einen Krieg ankommen lassen. Und dann werden die Verschwörer um Hans Oster, Ludwig Beck und Hans von Dohnanyi handeln. Christel schreitet durch die Tage vom 26. bis zum 28. September wie durch einen Wachtraum. Nichts scheint ganz wirklich, während die Anspannung wächst und wächst, alles auf den erwarteten Marschbefehl hinstrebt, den ganzen Tag lang läuft das Radio.
    Mussolini ist um Vermittlung ersucht worden.
    Es wird noch einmal zu Verhandlungen kommen.
    Christel sitzt am Radioapparat. Sie folgt dem Fortgang der Konferenz. Klaus von Dohnanyi ist zehn Jahre alt. Etwas bedrückt ihn seit gestern Abend. Der Vater hat etwas zur Mutter gesagt, leise. Klaus hat es nicht verstanden. Er hat nicht gelauscht: So etwas täte er nie. Er hat aber ein Wort aufgeschnappt, das ihn seither nicht loslässt,
    Testament
    In der Nacht zum 30. September 1938 wird von den Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und des Deutschen Reichs das Münchner Abkommen unterzeichnet, das Hitler die Genehmigung zum Anschluss des Sudetenlandes erteilt. Vertreter der Tschechoslowakischen Republik sind nicht eingeladen. Anfang Oktober wird das Sudetenland von den Deutschen besetzt. Ab 2. Oktober okkupiert auch Polen tschechische Gebiete im geteilten Teschener Olsagebiet. Ungarn besetzt Grenzgebiete mit teils ungarischer Bevölkerung. Die westliche Welt bejubelt die Erhaltung des Friedens. Die Deutschen bejubeln die Gebietsvergrößerungen und AdolfHitler. Der ist bitter enttäuscht. Wieder hat man ihn seinen Krieg nicht führen lassen.
    Aber das wird schon noch kommen. Es ist ja nun für einen Putsch zu spät. Wer wollte den heißgeliebten Führer im Moment seiner höchsten Glorie vom Sockel stürzen? Es ist nun also alles vorüber. Die Dohnanyis verlassen Berlin. Sie ziehen nach Leipzig wie geplant, in ein schönes Haus mit Garten: Hans wird zum ersten Mal gut verdienen. Er

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