Wer wir sind
er. »Verstehst du?«
Christel und Hans sitzen im Garten. Es ist ein wunderschöner, ungewöhnlich warmer Oktobermorgen. Die Kinder sind in der Schule, und die Dohnanyis halten ein zweites Frühstück.
Hans blättert in Papieren. Er arbeitet zurzeit wieder viel zu Hause. Er hofft sehr darauf, nach den Querelen in Berlin nun am Reichsgericht endlich befriedigend tätig werden zu können. Allerdings zeichnet es sich ab, dass das Amt einesbeisitzenden Richters durchaus seine Schwierigkeiten birgt. Die Gesetzesvorschriften weichen oft allzu eklatant von Hans’ eigenem Rechtsempfinden ab. Und natürlich muss man dennoch nach dem Gesetz urteilen. Wonach sonst? In der Rechtsprechung darf nicht das persönliche Empfinden eines Richters ausschlaggebend sein. Jegliche Willkür muss ausgeschlossen bleiben. Das eben ist doch das Recht: dass jeder Richter an die gleichen Gesetze gebunden ist, und zwar an Gesetze, die nicht er selbst erlassen hat.
Christel schreibt eine Einkaufsliste. Es ist sehr angenehm, zum ersten Mal in ihrer Ehe keine brennenden finanziellen Sorgen zu haben. Heute Abend kommen Reichsanwalt Richter und Senatspräsident Ernst Brandis mit ihren Frauen zum Essen. Es sind nette und angenehme Menschen, keine Nationalsozialisten. Sie sind die Kür. Christel hat sich aber vorgenommen, von nun an auch regelmäßig ihren Pflichteinladungen nachzukommen und Leute einzuladen, die Hans’ Karriere fördern können. Sie werden sich einrichten in diesem Leben.
Das hat Christel sich vorgenommen: Sie wird Hans alles Glück geben, das ihm in der Arbeit versagt bleibt. Er wird nun im Privaten, in seiner Liebe zu seiner Frau und seiner Familie zur Ruhe kommen.
5
Die Geschichte erzählt sich von ihrem Ende her. Das hat Libs sofort begriffen. Die Geschichte entsteht erst, wenn sie bereits vorbei ist: wenn das schöne liebende Mädchen tot an der Seite seines geliebten Königs zusammenbricht. Aber was steht am Anfang? Ein Vorsatz, ein Entschluss? Oder folgt ein Schritt aus dem anderen, als würde man einem unschuldig Gefangenen ein Stück Brot in die Zelle schmuggeln, dann bäte der Gefangene um eine Feile, dann um ein Pferd, und schließlich würde man auf der Flucht mit ihm zusammen erschossen?
Am Anfang steht der Ruf. Der Ruf ertönt, der feige Vetter duckt sich, und das Mädchen Auguste tritt hohen Mutes an seine Stelle. Als Page verkleidet reitet sie in die Schlacht, an der Seite des Schwedenkönigs Gustav Adolf. Will sie für Deutschland kämpfen, für den wahren Glauben? Hat sie beschlossen, für die gute Sache tapfer ihr junges Leben zu wagen?
Auguste bewundert den jungen König. Sie liebt ihn. Sie begeistert sich für ihn, sie sucht unbedingt seine Nähe, bis die Schüsse fallen, deren einer sie trifft. In diesem Moment entsteht die Geschichte.
Sie entsteht erst, wenn sie bereits vorbei ist: erst als dasschöne liebende Mädchen schon tot ist und der feige Vetter hinter dem Ofen hervorkriecht und fragt,
Kann ich nun meinen Namen wiederhaben?
Nein, Herr! Euer Name wird die Ehre haben, auf dem Grabhügel eines hochgesinnten Mädchens zu stehen, das einen herrlichen Helden bis in den Tod geliebt hat. Ihr aber habt Euer höchstes Gut gerettet, das liebe Leben. Damit begnüget Euch!
Libertas sind beim Lesen die Tränen in die Augen getreten. Natürlich musste das Mädchen Auguste Leubelfing sterben, das hat sie sofort verstanden. Ohne ihren Tod wäre ja die ganze Erzählung Wirrnis geblieben, Willkür, ungeordneter Zufall. Ohne ihren Tod hätte es gar keine Geschichte gegeben: Erst als Auguste an der Seite ihres Königs fällt, erfährt ja die Welt, wer Gustav Adolfs Page in Wirklichkeit war. Erst ihr Tod offenbart ihr Geheimnis, ihren Mut, ihre Liebe, Libs hat deutlich gefühlt, dass sie ist wie Auguste.
Es ist der 2. September 1929. Libs ist fünfzehn Jahre alt. Augustes Lebensmotto wird auch das ihre sein, das hat Libs beschlossen,
Courte et bonne! Ich wünsche mir alle Strahlen meines Lebens in ein Flammenbündel und in den Raum einer Stunde vereinigt, dass statt einer blöden Dämmerung ein kurzes, aber blendend helles Licht von Glück entstünde, um dann zu löschen wie ein zuckender Blitz.
Libertas hat die Stelle wieder und immer wieder gelesen. Es war ja nicht zu glauben, wie schön dies war,
blendend helles Licht von Glück
alle Strahlen meines Lebens in ein Flammenbündel
Libs selbst wird eines Tages solche Dinge schreiben. Das ist ganz sicher. Libs schreibt ja schon. Sie hat den besten Aufsatzder
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