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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Berlin.
    Student sein, wenn die Veilchen blühen,
    Das erste Lied die Lerche singt,
    Der Maiensonne junges Glühen
    Triebweckend in die Erde dringt –
    Harro mietet sich im Wedding ein. Er gründet sofort eine Gefolgschaft des Jungdeutschen Ordens, hier mitten unter den roten Horden. Harro trinkt nicht, er raucht nicht. Dergleichen bürgerliche Laster sind untragbar. Harro ist einundzwanzig, er überblickt die Dinge. Er sitzt im Kolleg, dann geht er heim und schreibt Briefe. Er isst in Eile in einem kleinen Lokal um die Ecke, geht zu einer Debatte beim Deutschen Studentenverband und erscheint anschließend auf die Minute pünktlich beim Repetitor, bereits im Smoking, weil er um acht am Bahnhof Zoo ein Mädel abholen muss, um mit ihr zum Universitätsball zu gehen. Es spielen dort recht brauchbare Tanzkapellen. Harro ist ein hervorragender Tänzer. Er hat schon viele neue Bekanntschaften geschlossen. Er ist überall gern gesehen: Er sieht gut aus, er hat Charisma. Er besucht die Kostümfesteder Akademie mit Regine Schütt, die den Fehler gemacht hat, sich in ihn zu verlieben.
    Student sein, wenn zwei Augen locken,
    Ein süßer Mund verschwiegen küsst,
    Dass jählings alle Pulse stocken –
    Gegen Morgen fallen sie alle zusammen in ein Künstlercafé ein. Es ist ein ganz wüster Schuppen, an dem Harro vor allem begeistert, dass er mit seiner Beschreibung im nächsten Brief seine Mutter schockieren kann. Harro ist eine Führernatur. Er ist Elite: Daran hegt er nicht den geringsten Zweifel. Er setzt sich entschieden für den freiwilligen Arbeitsdienst ein. Er ist dafür, die großen Güter im Osten des Reiches zum Verkauf von Land zu nötigen, auf dem dann neue Bauern- und Siedlerstellen geschaffen werden können, wo die Arbeitslosen unterkämen, er schickt jede Woche seinen Wäschesack heim zur Mama, wie das üblich ist. Papa zahlt das Studium und die Wohnung. Harro initiiert und organisiert den Diskussionskreis Forum, Politische Arbeitsgruppe zu Berlin, zu dem er Otto Strasser und Ernst Jünger einlädt, er spricht auf einer Parteiveranstaltung der NSDAP, die in einem Grunewalder Lokal stattfindet, entsprechend gehoben ist das Publikum. Harro erklärt, dass er weder den Nationalsozialismus noch den Kommunismus schätzt und schon gar nicht die bürgerlichen Parteibuchtrottel.
    »Ob KPD oder NSDAP: Wenn eure Führer am Ende sind, werden wir zusammen weitermarschieren in einer größeren Front, die durch alle Lager geht. Mir ist egal, welcher Ansicht einer ist. Mein Freund ist nicht, wer mir zustimmt, sondern wer mit mir wächst.«
    Er hat vielen dort aus der Seele gesprochen. Ein gewisser Justus Delbrück hat Harro sogar zu sich nach Hause eingeladen: ein Sohn des alten Delbrück, der mit seinen dummenAngriffen Onkel Alfred ebenso wie seinen Großneffen Harro mehr als einmal schwer erzürnt hat. Aber dafür kann man den Sohn ja nicht verantwortlich machen. Harro ist also hingegangen. Er hat sich natürlich sofort zu Alfred von Tirpitz bekannt. Die Gastgeber haben an seinen verwandtschaftlichen Bindungen keinerlei Anstoß genommen. Sie waren überhaupt ganz prächtige Menschen, die mit ihrer Villa absolut nicht geprotzt haben. Aber was schreibt Harros Mutter? Sie befürchtet, solch anti-nationalsozialistische Einladungen könnten jüdischen Ursprungs sein.
    Das hat sie im Ernst geschrieben. Solche Einlassungen könnten noch dem eingefleischtesten Judenhasser den Antisemitismus vermiesen. Immerhin gibt dergleichen Harro die Gelegenheit, auch einmal scharf zu formulieren.
    Dummheit ist ja an sich nicht schlimm. Aber sie verpflichtet zur Zurückhaltung.
    Harro seinerseits ist nicht dumm. Nach der Naziversammlung im Grunewald wollte die Polizei ihn heimbegleiten, so hoch ging es her. Er hat aber abgelehnt. Courage imponiert immer, und auf sie wird er sich verlassen,
    Student sein, wenn die Hiebe fallen
    Im scharfen Gang, der selbstgewählt,
    Im blut’gen Aneinanderprallen
    Der Mut sich für das Leben stählt.
    Harro bejammert nicht das Los der Deutschen, er beklagt sich nicht über die Franzosen oder die Polen. Er betrachtet die Dinge nüchtern, sachlich, kühl. Harro teilt seiner Mutter mit, immerhin verstünde Marx etwas von Ökonomie, im Gegensatz zu dem vertrottelten Gottfried Feder, auf den sich Mamas Nazis berufen. Harro wünscht die Revolution. Er wünscht die Sozialisierung der Produktionsmittel und die Nationalisierung von Grund und Boden, damit die unterdrückten, rechtundheimatlosen Proletarier Seite an Seite

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