Wer wir sind
zu dem Programm. Das ist ja doch das Wichtigste.«
»Obwohl. Ist das tatsächlich das Wichtigste?«
Dann ist Marion fort. Freya ist mit den Kindern und Frau Pick allein. Aber es gibt noch das Berghaus, es gibt die große Akazie. Es gibt die Veranda, die warmen Sommerbretter unter den nackten Sohlen, wenn Freya morgens mit einem Malzkaffee ins Freie tritt, es gibt den großen Blumentopf an der Treppe mit der Clivia, die noch von Freyas Schwiegermutter stammt, es gibt den Blick von der Veranda über dieses weite und schöne Land der Felder mit seinen Flussläufen, Hügeln, Baum- und Buschgruppen, den Himmel mit den Wolken, die langsam aus der Ferne über die Felder wandern: Und dann, eines Tages, als Freya wieder einmal aus Schweidnitz zurückkehrt, sind die Engländer da.
Ein kleiner englischer Viersitzer mit einem britischen Fähnchen steht vor dem Haus, inmitten der Polen und Russen. Engländer sind gekommen, mit englischen Röcken und englischen Hemden und unverkennbar englischer Art.
»May I introduce myself. Mr. Hancock, at your service. And this is Mr. Finch.«
Es überwältigt sie. Es gibt sie noch, diese Engländer. Es gibt sie noch, die vergessene vertraute Welt aus der Zeit vor demKrieg, als Helmuth und Freya glaubten, ein zweites Heim im freien London aufbauen zu können. Die Herren kommen von der Botschaft in Warschau. Lionel Curtis hat Freyas Brief erhalten.
Nun läuft die Uhr. Freya darf noch vier Wochen bleiben. Dann werden die Engländer sie abholen. Freya muss diese vier Wochen bleiben, ob sie will oder nicht: Praktischerweise hat sie sich den Finger verletzt. Die Wunde hat sich entzündet. Freya könnte unmöglich Gepäck schleppen.
Sie hat also nun noch eine Frist, um zu überlegen, was sie tun soll, wenn sie Kreisau verlassen hat. Zuerst einmal wird sie nach Berlin zurückkehren. Dann könnte sie vielleicht zu einem ihrer Brüder ziehen, zu ihrer Mutter, oder sie könnte bei Freunden unterkommen. Was davon wird ihr möglich sein? Was lässt sich planen, in diesen Zeiten? Freya besitzt noch ein Radio, was den Deutschen verboten ist. Abends sitzt sie in der Küche, hinter zugezogenen Vorhängen, und hört Nachrichten. Und dann steht eines Tages der Russe mit dem Zylinder des Feldmarschalls auf der Veranda und erklärt, die Polen hörten hier abends Türülürülü .
Sie überlegt einen Moment. Dann sagt sie: »In der Küche.«
Herr Serpuchoff geht in die Küche. Er nimmt im Vorbeigehen ein Glas Marmelade. Er öffnet die Marmelade, dann sieht er das Radio. Er schaltet es an. Musik ertönt. Herr Serpuchoff tanzt selig, die Marmelade im Arm.
Dann ist das Radio weg.
Freya weiß nun nichts mehr von der äußeren Welt. Sie geht nicht mehr hinunter zum Schloss und zum Gutshof. Dort herrschen die Russen und die Polen. Sie bleibt am Berghaus. Nie war ein Herbst stiller, goldener. Nie waren die blauen Fernentiefer. Nie war das Summen der Bienen satter. Freya geht noch einmal die Wege, die sie mit ihrem Mann gegangen ist.
Sie geht sie allein, sie geht sie mit den Kindern. Sie geht sie mit Helmuth. Sie stellt sich nicht vor, dass er neben ihr ginge. Sie gehen ja miteinander, auf veränderte Weise durch eine veränderte Welt, Freya ist voll Dankbarkeit. Sie ist hier so glücklich gewesen.
Sie hat großes Glück gehabt, in diesem Jahr 1945: Sie ist wie unter einer schützenden Hand durch all diese wilden Wochen und Monate gekommen, zusammen mit denen, die ihr anvertraut waren. Fast ist es ihr, als vollendete sich jetzt ihr Leben. Fast wünschte sie es sich. Die Strecke, die vor ihr liegt, erscheint ihr unendlich lang und banal: all das Kommende, das über dieses nun abgeschlossene Leben hinausreichen soll. Freya geht zu ihren Bienenstöcken.
Sie holt Helmuth James Graf von Moltkes Briefe hervor, die sie dort versteckt hat. Sie muss dreimal gehen. Es sind weit über tausend Briefe, die ihr ihr Mann in den Jahren ihrer Ehe geschickt hat. Sie liest sie nicht, jetzt nicht. Sie geht über die Wiesen und Felder. Sie ist hier nicht geboren, aber dies ist ihre Heimat. Das sanfte Wort: Heimat. Ein duftendes Weißdorngebüsch, darin gegen Abend der Gesang eines Vogels, der sich dem Auge verbirgt, ein schläfriger Ruf von der Veranda, die Dämmerung an der Seite des geliebten Mannes, die Teller sind abgeräumt und es bleibt lange hell, und im Westen steht am klaren Himmel der Abendstern. Die Nazis haben das Wort Heimat verhunzt und besudelt, wie sie alles besudelt haben, was sie berührt haben. Freya ist nicht
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