Wer wir sind
lauter, dann weinen sie leiser. Dann öffnet sich die Tür, und man lässt sie frei.
Ein zweites Mal öffnet sich für Marion die Gefängnistür. Die Sonne scheint, die Luft ist erfüllt vom Duft eines weiteren Frühlings. Die Caritas hilft ihnen über die Oder zurück. Marion und Muto beziehen wieder die Hortensienstraße, wo Mariechen auf sie wartet, Muto arbeitet wieder als Ärztin. Marion ist einundvierzig Jahre alt. Sie beginnt nun ein neues Leben.
Sie wird dort anknüpfen, wo sie am 29. Juni 1929 aufgehört hat.
Es war der siebenundfünfzigste Geburtstag der Gräfin Sophie Yorck von Wartenburg. Die Geschwister hatten sich vollzählig im Gartensaal von Klein Oels versammelt. Peters jüngste Schwester Muto hatte Marions Stuhl an der Tafel bekränzt. Peters Bruder Hannusch hatte Marion mit einem Lorbeerkranz gekrönt: Am Vortag war sie zum Doktor der Rechtepromoviert worden. Alle haben ihr applaudiert. Dann hat die Gräfin ihr den Lorbeerkranz vom Haar genommen, ihr einen Rosenkranz aufgesetzt und sie in der Familie willkommen geheißen: Marion war nun eine Braut.
Sie war Peters Frau. Sie ist Peters Witwe. Sie ist diesen Weg zu Ende gegangen. Nun wird sie den anderen der beiden Wege beschreiten, die an jenem Tag vor ihr lagen. Sie wird sich wieder der Juristerei zuwenden. Der Krieg ist vorbei.
4
Christel von Dohnanyi kommt nicht mehr zur Ruhe. Es hält sie nirgendwo, das Wandern kann nicht mehr enden, das Haus in Sacrow ist für immer verloren. Nie wieder wird sie mit Hans auf dem Steg stehen. Alles ist Trümmer und Dreck, alles ist verhunzt und beschmutzt und besudelt. Sie war in Sachsenhausen, sie hat Mithäftlinge ausfindig gemacht, sie hat bei den offiziellen Stellen geforscht. Keiner weiß etwas über Hans. Im Dezember 1945 schließlich hat Christine eine Todesanzeige aufgegeben.
Wir müssen es nun als eine Gewissheit hinnehmen, dass mein lieber Mann, unser guter Vater
Aber Christel kann keinen Schlussstrich ziehen. Worunter, unter ihr Leben? Sie hadert mit dem Datum des Kriegsendes. Es ging um Tage. Sie hadert mit den Männern des 20. Juli, mit den Alliierten. Hätten die Alliierten die KZs nicht schon vor der Kapitulation mit Fallschirmspringern besetzen können? Hätten sie nicht die armen Gefangenen retten können, die in den letzten Tagen ermordet wurden? Christel ist enttäuscht von den Rettern. Sie schreibt Ende 1945 an den Gouverneur der Alliierten in Berlin, ob er von der Situation der Deutschenin Hitlerdeutschland eigentlich eine Ahnung hat. Sie fragt an, wie es möglich ist, dass die Alliierten die Witwe Ernst von Harnacks aus ihrem Haus vertrieben haben, ebenso die Witwe von Goerdeler.
Wir Deutschen haben das Recht verwirkt uns zu beklagen, wir haben zu tragen, was wir über uns gebracht haben. Aber wer wie wir den Kampf gegen Hitler vom ersten Tag mitgekämpft hat, hat auch die Pflicht zu reden. Wir sprechen für unsere Toten, die den Krieg im Lager des Feindes mitgekämpft haben, weil sie hofften, dass das, wofür sie in Deutschland nicht leben konnten, sich mit dem Sieg der Alliierten der Verwirklichung nähern würde: ein Leben der Völker untereinander in Recht und christlicher Brüderlichkeit. Lassen Sie sie nicht nachträglich zu Verrätern in ihrem Lande werden. Denn das werden sie, wenn die Alliierten jetzt nicht diesen Geist der Brüderlichkeit und Nächstenliebe zeigen.
Christel hat keine Antwort erhalten. Wieder einmal hat das Ausland geschwiegen, wieder einmal den Widerstand ignoriert. Und den Deutschen ist wie immer alles egal. Deutschland blickt nicht zurück, es denkt nicht daran. Wofür also die Opfer? Die Deutschen haben die Stirn, sich jetzt alle miteinander als Opfer zu betrachten. Sind sie nicht bombardiert worden, haben sie nicht alles verloren in diesem Krieg, kann man nicht endlich einen Schlussstrich ziehen? Die Deutschen wollen nichts mehr von den Nazis hören. Sie sind es leid, sich als Mörder beschimpfen zu lassen, noch dazu von Verräterfrauen.
Vom Verräter frisst kein Rabe
Adolf Grimme, Günther Weisenborn und Greta Kuckhoff haben gleich nach dem Krieg Strafanzeige gegen Manfred Roeder erstattet. Das Verfahren ist von der Staatsanwaltschaft Lüneburg erst verschleppt und dann eingestellt worden. Staatsanwalt Hans-Jürgen Finck und seine Dienstvorgesetztenhaben jeden Verdacht einer Rechtsbeugung des Beschuldigten Roeder verneint. Der Abschlussbericht vom 12. Mai 1951 kommt zu dem Ergebnis, die Angeklagten der Roten Kapelle seien allesamt mit Recht zum
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