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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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hier geboren. Dennoch ist dies Freyas Heimat. Sie wird sie nun aufgeben. Sie wird eine andere Heimat finden.Dann sind die Engländer zurück. Gero von Schulze-Gaevernitz ist gekommen, der Assistent und Vertraute von Allen Welsh Dulles, Chef des amerikanischen Geheimdienstes OSS in Europa. Einst hat Geros Vater mit Helmuth von Moltke und Eugen Rosenstock-Huessy im Kreisauer Schloss gesessen und erwogen, wie man den Waldenburger Arbeitern helfen könnte. Nun wird Waldenburg polnisch, ebenso wie Kreisau und Krainsdorf, das schlesische Gut der Familie Schulze-Gaevernitz im Glatzer Land. Freya hat gepackt. Sie ist bereit. In dieser Nacht schläft sie zum letzten Mal in dem Bett, das sie mit ihrem Mann geteilt hat. Am nächsten Morgen wacht sie auf. Sie weckt die Kinder. Sie macht das Bett. Einen Moment steht sie am Fenster ihres Schlafzimmers, aber nicht lange. Eine kühle, dünne Herbstsonne scheint. Es wird ein schöner Tag. Nach dem Frühstück spült Freya die Tassen ab. Sie stellt sie in das Abtropfgestell, mit der Öffnung nach unten.
    So bleiben die Tassen stehen, während Freya mit den Kindern das Haus verlässt und zu Gero Schulze-Gaevernitz in den Wagen steigt. Der Wagen rollt den Berghaushügel hinunter, er rollt am Bahnhof vorbei, über die Peilebrücke, durch das Dorf und auf der Landstraße fort gen Westen. Kreisau bleibt zurück. Das Berghaus bleibt zurück, unverschlossen. Die Schlüssel liegen auf dem Tisch im Esszimmer.
    Am 8. November 1945 besteigt Willy Brandt auf dem Osloer Flughafen Fornebu eine Kuriermaschine der britischen Luftwaffe. Er trägt eine norwegische Uniform, am Arm einen Streifen mit der Aufschrift War Correspondent: Er wird für norwegische und schwedische Zeitungen über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess berichten. In Bremen betritt er zum ersten Mal seit 1936 wieder deutschen Boden.
    Er schließt die Augen. Er öffnet sie wieder. Dies ist nichtmöglich. Dies ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein. Dies ist eine furchtbare, höllische Vision.
    Weihnachten 1945 haben sie in der Hortensienstraße gefeiert: Marion, Muto und das liebe Mariechen, das aus der Tschechei zurückgekehrt ist. Es war ein merkwürdiges Fest. Durch den nasskalten diesigen Abend ohne Schnee sind sie zu der Kirche gewandert, wo früher Hanns Lilje gepredigt hat. Der Pfarrer war neu, sie kannten ihn nicht. Mariechen hatte irgendwo einen Stallhasen aufgetrieben. Es gab frisch bezogene Betten, Kerzen auf dem Tisch. Marion war irritiert. Alles hier war vertraut-befremdlich, die abgeworfene Larvenhaut einer Libelle, die brüchig und tot die Form eines vergangenen Lebens konservierte. Marion musste wieder fort.
    Sie ist zusammen mit Muto aufgebrochen, mit der sie nach all ihren Wanderungen zusammengeschweißt ist wie mit niemandem jemals seit Peter. Sie sind nach Kreisau zurückgekehrt.
    Freya ist nicht mehr da. Aber sie schlafen im Bett einer jungen polnischen Bäuerin, die früher auf dem Hof für Freya gearbeitet hat und die sich sehr über den Besuch und die amerikanischen Strümpfe vom Berliner Schwarzmarkt freut. Am nächsten Morgen hält ein Auto vor der Tür. Polnische Miliz erscheint: Marion und Muto sind verhaftet.
    Was nützt Marion nun der Zettel von der Berliner Stadtkommandantur, der auf Russisch bestätigt, dass ihr Mann und sie Opfer des Nationalsozialismus sind? Marion weiß nicht einmal, was man ihr und Muto vorwirft. Im Februar 1946 werden sie nach Breslau überstellt, ins Untersuchungsgefängnis, dann nach Warschau weitergeschafft. Durch Warschaus Trümmerberge ziehen die Kolonnen der deutschen Kriegsgefangenen, die aufräumen sollen, was sie angerichtet haben. MitMarion und Muto weiß man dort nichts anzufangen, und so treibt ein Milizionär sie wieder zum Bahnhof zurück. Der Zug nach Breslau ist überfüllt. Marion und Muto kauern nebeneinander, erschöpft und hungrig, schicksalsergeben wie alle, die zwischen den Fronten wandern. In Breslau sperrt man sie in eine fensterlose Zelle, wo das Regenwasser von der Decke tropft.
    Und dort vergisst man sie nach und nach. Man gibt ihnen nicht mehr täglich zu essen. Man redet sie nicht mehr mit Namen an. Dies ist der tiefste Punkt. Dies ist die Talsohle: Hier gibt es keine Hoffnung mehr, nur Kälte und Bosheit, Läuse, Wanzen. Es gibt kein Fenster, und sie haben keine Uhren. Sie wissen nicht, ob es Tag ist oder Nacht. Sie wissen längst nicht mehr, welcher Tag es ist. Meist sitzen sie still beieinander und weinen. Manchmal weinen sie heftiger,

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