Wer wir sind

Pommerschen Bauhütten wollten zusammen mit französischen Stellen in Marseille eine Gartenstadtsiedlung nach Entwürfen von Le Corbusier errichten. Franz Jung hat das Geschäft angebahnt und dazu Reichsmark nach Frankreich transferiert, was nach den Devisenbestimmungen strafbar ist. Jung musste also wieder einmal untertauchen. Das Büro des ›GEGNERS‹ ist versiegelt, die Gelder sind gesperrt, und Harro hat die Redaktion vorübergehend in die Rotgraue Garnison verlegt: in die Achtzimmerwohnung in der Kreuzberger Ritterstraße, wo Eberhard Koebel mit einem Haufen seiner Jungen haust. Eberhard Koebel ist der Gründer der deutschen jungenschaft 1.11.
    Er kommt aus der Bündischen Jugend, aber er kocht seineigenes Süppchen. Er ist als Rentierhirte monatelang mit einer Nomadenfamilie in Lappland herumgezogen,
    Es ist aber kein mystischer, unerklärlicher drang der seele gewesen. Ich brauche nicht vor mir angst zu haben. Es ist ja alles gesund und natürlich. Jetzt weiß ich, was ich in Lappland gesucht habe.
    Seit damals nennt Eberhard Koebel sich tusk: Tysk, der Deutsche. Er geht mit seinen Jungen auf Großfahrt nach Schweden oder zur finnischen Eismeerküste. Er entwickelt die Jungenschaftsjacken, er entwickelt die Kohten: Zelte, in deren Mitte ein Feuer brennt, tusk ist ein Selbsterringender, kein Wiederholender.
    So nennt er sich. So sollen auch seine Jungen sein. Sie sind wild und frei und militärisch gedrillt. Sie ziehen auch im Winter mit der Kohte hinaus. Sie dichten, spielen Theater und komponieren. Sie singen, was tusk für sie gedichtet hat,
    über meiner heimat frühling
    seh ich schwäne nordwärts fliegen
    ach mein herz möcht sich auf grauen
    eismeerwogen wiegen –
    d. j.-Mitglieder dürfen ausschließlich der KPD, NSDAP oder SPD angehören, also nur Parteien, die für die strikte Durchführung des Sozialismus zu sorgen bereit sind: So sagt es tusk. Tusk selbst tritt in die KPD ein, dann tritt er wieder aus,
    Jugend ist entwicklung, hass gegen den bisherigen zustand, die liebe zum besseren menschen. Das ist revolution. Wir wollen alles besser lernen und besser können: besser singen, besser schweigen, besser schlemmen, besser fasten, grimmig arbeiten und hemmungslos faulenzen.
    Dort ist Harro nun also gelandet. In der Garnison wird alles geteilt: Geld, Essen, Abwaschdienst, die Arbeit in tusks Lasso-Verlag, tusk hat leider weder Geld noch Lust, sich am›GEGNER‹ zu beteiligen, der nun der › gegner‹ ist. Aber Harro kann den Schweizer Alfred Schmid gewinnen, den Führer des elitären Grauen Corps. Harro ist jetzt Zeitungsherausgeber, mit dreiundzwanzig. Er bricht sein Studium ab. Er wirft sich ganz auf die Politik,
    Europa war die Uhr der Welt. Sie steht.
    Das schreibt Harro.
    Außerdem beginnt er Russisch zu lernen: Der neue Mensch entsteht in der Sowjetunion, das ist ihm unlängst klargeworden. Schon Onkel Alfred Tirpitz konnte schließlich die Engländer nicht leiden. Schon er war für einen russischen Sonderfrieden, damals im Weltkrieg. Die Sowjetunion ist das einzige Land der Welt, das floriert. Die Planwirtschaft hat die wirtschaftliche Desorganisation und die Erwerbslosigkeit beseitigt, die nationale Mobilisierung aller Energien ist geglückt. Außerdem ist Russland der natürliche Verbündete Deutschlands, nachdem der Versailler Vertrag und der Vertrag von Rapallo beide Länder als Parias der internationalen Gemeinschaft gebrandmarkt haben. Moeller van den Bruck, Autor von ›Das Dritte Reich‹, hat die Dinge im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Gesamtausgabe Dostojewskis sehr treffend bezeichnet,
    Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Russland ihnen ausgesetzt gewesen ist, und das uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind. Nachdem wir so lange zum Westen hinübergesehen haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach dem Osten hinüber und suchen die Unabhängigkeit.
    Russland ist die einzige Kraft, die sich gegen Pan-Amerika richtet, gegen das seelenlose Gestern und Vorgestern des Kapitalismus,der alles dem Westlertum unterwerfen will. Harro zieht in ein sehr schönes Zimmer bei einem russischen Ehepaar in Halensee. Deutschland muss sich auf die Seite des Ostens stellen: was aber nicht etwa heißt, dass Harro etwas gegen die Franzosen hat.
    Harro hat Freunde in Frankreich. Er schreibt für ›Plans‹