Wer wir sind
Haus, verstrickt in ein Wortgefecht mit diesem fürchterlichen Menschen. Drinnen im Haus hatten sie ihren Sohn. Hörte sie einen Schrei? Von dort? Der junge Kerl vor ihr grinste, kratzte sich am Geschlechtsteil. Aber sie hat Harro wieder.
Sie hat ihn gefunden. Es ist der 25. April 1933. Harro sitzt hier, neben ihr im Taxi, das durch Aprilpfützen fährt, durch dünnen Aprilsonnenschein, zurück in die ganz normale Welt. Sie sind in der normalen Welt. Sie sind in Sicherheit. Harros Verhaftung war ein Fehler. Der Fehler ist nun berichtigt. Es ist also alles wieder gut. Harro ist grauweiß im Gesicht, mit bleifarbenen Ringen unter den Augen. Seine Haare sind raspelkurz, als käme er aus einem Straflager. Seine Lippe ist gespalten. Seine Braue ist blutverkrustet. Schlimmeres ist im Moment nicht zu sehen. Er hat aber Mühe gehabt, ins Taxi zu steigen. Er hält sich am Vordersitz fest, vermeidet es, sich anzulehnen.
»Harro. Mein Kind.«
»Still.«
Sie weiß nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Es war ein Laut, vielleicht nur ein Aufschluchzen. Draußen hat es zuregnen begonnen. Wenigstens wohnt er jetzt in der Siedlung Eichkamp, nicht mehr in diesem grässlichen Weddinger Loch in der Liesenstraße und auch nicht mehr bei den Russen. Der Wagen hält. Lärchenstraße 6. Sie sind da. Sie bezahlt. Er steigt aus, wiederum mit Mühe. Er wehrt ihre stützende Hand ab. Er öffnet die Haustür, geht vor ihr die Treppe hinauf, die Tür ist unversehrt. Hier waren sie also nicht. Sie haben ihn aus den Redaktionsräumen des ›gegner‹ geholt, aber seine Wohnung haben sie nicht durchsucht. Drinnen riecht es ein wenig muffig, ungelüftet. Es ist aber alles sehr ordentlich. Natürlich. Auf Ordnung hat Harro schon als Kind Wert gelegt.
»Zieh das Hemd aus, Kind.«
Er antwortet nicht.
»Harro, ich bitte dich. Zieh das Hemd aus.«
Sie ist fast verblüfft, als er gehorcht. Sein Rücken, seine Schultern sind voller Striemen. Manche sind blaurot, aufgepfiffen. Manche sind geplatzt und nässen. Sie schafft es, weder zu schreien noch zu stöhnen. Sie spricht ganz ruhig.
»Wir müssen einen Arzt holen. Du bleibst hier. Ich werde augenblicklich einen Arzt holen.«
»Hör auf, Mama. Ich bitte dich.«
Er setzt sich auf den Rand eines Stuhls. Er sieht an ihr vorbei, auf die Wand. Er sagt: »Henry ist tot.«
Sie kann nicht antworten. Der Regen draußen scheint stärker geworden zu sein. Sie hört die Tropfen gegen das Fensterglas schlagen.
Er sagt: »Sie haben ihn totgeschlagen.«
Sie erinnert sich an Henry Erlanger. An Harros Mitarbeiter und Freund: einen schmalen jungen Mann mit dunklem Haar, dunklen Augen, einer erkennbar jüdischen Nase.
»Wir werden sie anzeigen, Harro. Du bleibst hier. Ich werde zu von Levetzow gehen und sie anzeigen.«
Er wendet ihr das Gesicht zu. Er ist vierundzwanzig Jahre alt. Er beginnt zu lachen, lautlos.
»Mein Kind!«
Nach einer Weile sagt er: »Ich kannte zwei von denen. Ich kannte zwei. Sie kamen nur eben ein wenig spät. Sie kamen zu spät.«
Da ist es wieder, das Geräusch. Es ist kein Weinen. Es ist eher ein nervöses Geräusch, wie ein Schnappen nach Luft. Sie kennt diesen Laut. Er hatte das schon als Kind. Schon als kleiner Junge, wenn er sich sehr aufgeregt hat, vielleicht über eine Zurücksetzung, die nicht einmal seine eigene gewesen sein musste. Er sagt: »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ich war bei von Levetzow«, sagt sie. »Er ist zum Berliner Polizeipräsidenten ernannt worden. Admiral von Levetzow, natürlich kennt er Papa. Natürlich kannte er Onkel Alfred. Ich habe ihm gesagt, wer wir sind. Ich habe ihm gesagt, wer du bist.«
»Ja«, sagt Harro. »Der Großneffe von Großadmiral von Tirpitz. In einem SA-Folterkeller. Das sieht freilich nicht gut aus.«
»Von Levetzow wusste nicht, wo du warst«, sagt sie. »Wir haben dich gesucht. Zwei Tage lang.«
Sie presst die Hand vor den Mund. Zwei Tage. Wenn man es ausspricht, ist es ganz unfassbar. Wie viele Stunden, wie viele Minuten, wie viele einzelne Augenblicke. Und kein einziger lässt sich überspringen. Harro sagt: »Wir. Wer ist wir? Mit wem hast du nach mir gesucht?«
Sie zögert. Dann sagt sie es.
»Mit Fräulein Schütt.«
»Ah. Regine.«
Sie weiß selbst nicht, warum sie nun eifrig wird.
»Fräulein Schütt hat uns in Duisburg angerufen. Sie hat mir gesagt, dass du verschwunden bist. Dass sie dich abgeholt haben, aus der Redaktion. Ohne sie hätte ich es gar nicht erfahren. Ohne sie«, aber nun spricht sie
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