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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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ungeklärt, was sich mittels der Person Hitlers zu verwirklichen sucht. Vielleicht hat der Mann einen Auftrag, möglicherweise einen, der ihm gar nicht bewusst ist. Kann ein Mensch überhaupt seinen eigenen wahren Auftrag erkennen? Vielleicht ist Hitler dazu ausersehen, alles Sinnentleert-Überlebte zu zertrümmern, um Raum zu schaffen für gänzlich Neues, dem er selbst gar nicht mehr angehört.
    Und könnten Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Harro Schulze nicht einander begegnen? Sie hätten sich sicher einiges zu sagen. Vielleicht könnten die Mehnert-Brüder Frank und Klaus sie miteinander bekannt machen? Aber Klaus Mehnert ist ja gar nicht mehr in Deutschland. Der Schriftleiter der Zeitschrift ›Osteuropa‹ hat Deutschland den Rücken gekehrt und ist nach Moskau gezogen, nicht als Emigrant, sondern als Zeitungsreporter für deutsche Blätter.
    Oberleutnant Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist an die Kavallerieschule Hannover versetzt.
    Und Harro ist im Reichsluftfahrtministerium untergekommen, in der neu gegründeten Nachrichtenabteilung.
    Er ist sehr erleichtert. In Görings Ministerium wird er zwar nicht viel verdienen, jedenfalls nicht zu Anfang, aber immerhin ist er hier einigermaßen sicher vor den Nachstellungen der Gestapo. Die Tätigkeit liegt ihm: Er wird vor allem damit beschäftigt sein, ausländische Zeitungen auszuwerten. Und wenn auch der ›gegner‹ zerschlagen und Harros Antrag auf Zulassung als Schriftleiter abgelehnt worden ist, so ist doch Harros bisheriges Wirken nicht gänzlich spurenlos ausgelöscht: Nach einer Theateraufführung der HJ in Zehlendorf sah er sich auf einmal von einem Dutzend prächtiger Jungen umringt, die alle zur Leserschaft des ›gegners‹ gehört hatten.
    Harro ist beglückt: Der ›gegner‹ ist zerschlagen, aber sein Erbe lebt fort. Harro muss jetzt einfach nur stillhalten.
    Er muss warten. Er ist zu früh gekommen, das sieht er jetzt ein. Er hätte die Nazis von Anfang an die Schmutzarbeit für sich erledigen lassen sollen. Nun ist das alte System jedenfalls hinweggefegt. Nun müssen die Dinge sich entwickeln. Harro wird sich bereithalten. Vielleicht wird seine große Zeit erst kommen, wenn er schon fünfunddreißig oder vierzig ist, also in zehn oder fünfzehn Jahren. Dann wird Harro sich an die Spitze einer neuen Bewegung setzen, und diese Jungen von der HJ werden mit ihm marschieren. Und bis dahin muss man sich nun eben munter und wohl erhalten. Harro stattet Kapitän Ehrhardt einen Besuch ab.
    Der Brigade Ehrhardt ist 1933 offiziell zuerkannt worden, Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Ehrhardt hat es mit Zähneknirschen vernommen. Er kann Hitler nicht ausstehen. Hitler ist ein Weichei. Als sein Putsch vorder Feldherrenhalle scheiterte, war Hitler der Erste, der sich verpisst hat. Und wo bitte war er, als Ehrhardts Organisation Consul die Schmutzarbeit machte und Erzberger, Rathenau und all die anderen wegräumte?
    Aber auch die Zuneigung der Nationalsozialisten ist nicht von verlässlicher Stabilität. Als Hitler um den 30. Juni dieses Jahres seinen treuen Gefolgsmann Ernst Julius Röhm und mit ihm die ganze SA-Spitze sowie einen Haufen anderer missliebiger Leute ermorden lässt, kann Ernst von Salomon den Kapitän gerade noch rechtzeitig warnen und ihn von Mitgliedern der Brigade außer Landes schleusen lassen.
    Juhujuiuiuiuuuhu!
    Harro fährt zum Segeln an den Wannsee.
    Diesen ganzen Sommer lang zieht er mit Libs und ihren Freunden herum: Sie segeln mit dem Boot von Richard von Raffay, Sohn eines Hamburger Autohändlers, sie fahren mit dem Mercedes eines Sohns von Krupp von Bohlen und Halbach ins Grüne. Sie schwimmen, sie wandern, sie sitzen am Feuer und singen mit dem schönen Russen Wanja russische Lieder,
    Schwarzer Augen Pracht, dunkler Sterne Strahl,
    heißer Liebesnacht leuchtend Flammenmal –
    Libs streicht über Harros Rücken mit den allmählich verblassenden Narben. Libs, die Parteigenossin: Sie hat keine Ahnung gehabt, dass dergleichen möglich ist. Sie hat geglaubt, die Partei spränge nur mit Staatsfeinden dermaßen hart um.
    »So ist es«, sagt Harro. »Ich bin ja ein Staatsfeind.«
    Sie liegen auf Libs’ Bett in Libs’ Atelierwohnung unweit des Kurfürstendamms. Sie haben sich gerade geliebt.
    »Lass doch die Narben«, sagt Harro.
    Er lacht, er wedelt mit der Hand.
    »Das war eine Auseinandersetzung unter Männern, mehr nicht. Ich lebe. Andere leben nicht mehr.«
    Er streckt den Arm aus und tastet nach den

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