Wer wir sind
die Räume des ›gegner‹ zerschlagen, sein Lebensplan in Scherben, die Freunde verhaftet oder geflohen, selbst seine Schreibmaschine beschlagnahmt und er allein mit seinen Erinnerungen an den sterbenden Henry Erlanger, allein in Warnemünde an der Deutschen Verkehrsfliegerschule, in einerrüden Zwangsgemeinschaft, die seine Unterordnung verlangt. Und zu allem Übel haben offenbar auch noch ein paar Leute von seiner Vergangenheit erfahren. Sie drangsalieren ihn, und er kann sich nicht wehren. Er muss sich schikanieren lassen. Er kann hier nicht leben. Er ist ratlos.
Die Eltern wickeln derweil den ›gegner‹ ab.
Der Vater bezahlt die horrenden Außenstände. Regine Schütt kommt nach Warnemünde und beschwert sich, dass SA-Sturmführer Zietlow sie bedrängt. Scham ist Harro ein neues und widerwärtiges Gefühl. Wie kann er seinem Vater danken? Was soll er gegen SA-Sturmführer Zietlow unternehmen? Warum demütigt Regine ihn mit diesen Geschichten, ihn, dem die Hände gebunden sind? Zietlow droht, Harro aus dem Weg zu räumen, wenn Regine sich ihm nicht ergibt. Er prahlt, wie leicht es für die SA sei, ein Flugzeug über Warnemünde abstürzen zu lassen. Soll er doch. Soll Regine doch zu Zietlow gehen, Harro ist es egal. Regine ist fassungslos.
Sie weint. Sie will ein Kind von Harro, sie will die Seine sein. Warum lässt sie ihn nicht in Ruhe? Harro ist verzweifelt. Er ringt. Er ringt darum, Harro Schulze zu bleiben. Er kämpft gegen die Ressentiments an, die in ihm hochbrodeln wie gärender Schleim, gegen die Selbstvergiftung durch gehemmte Rache, durch heimlichen Groll und Ohnmachtsgefühle, Harro kann das nicht dulden. Ein vornehmer Mensch ist vor sich selbst aufrichtig, er lebt vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit. Aber die Seele des Ressentimentzerfressenen schielt. Sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren. Harro weiß nicht, wie lange das alles noch zu ertragen ist. Wenn dies eine Sackgasse ist, wenn der einzige Ausweg der offene Himmel über ihm, das Wasserunter ihm ist, dann wird er diesen Weg wählen. Harro ist allerdings ein hervorragender Flieger.
Das immerhin wird respektiert, in einer Gruppe, aus der wegen der Härte der Ausbildung laufend Leute ausscheiden.
Harro verfasst ein Lied für einen Kameradschaftsabend. Er studiert mit seiner Gruppe einen Sketch über Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund ein, einen Schritt, den Harro im Übrigen ganz und gar befürwortet. Der Sketch kommt sehr gut an. Die Akteure strahlen. Die Zuschauer grölen, man applaudiert. Man ruft ihn auf die Bühne,
Harro, Harro!
Sein Vorgesetzter gratuliert ihm, schriftlich. Na also. Vielleicht muss Harro seinen Blickwinkel ändern. Vielleicht sollte er es so sehen, dass der Nationalsozialismus ihm die Arbeit abgenommen hat. Auch Harro und die Seinen wollten das Weimarer System ja abschaffen. Das ist nun geschehen. Nun muss man weitersehen. Dies ist nicht das Ende. Die Nazis werden sich nicht halten. Der Byzantinismus, die Heuchelei und das Mittelmaß dieser Menschen werden für ihren eigenen Untergang sorgen. Im Frühling 1934 wird die Fliegerschule geschlossen, und Harro findet sich in Berlin wieder.
Und nun?
Die Eltern ermahnen ihn, gut auf seine Gesundheit zu achten.
Er versteht sehr wohl. Er sieht ja, wo die anderen sind: Tusk von der deutschen jungenschaft 1.11. hat in der Haft zwei Selbstmordversuche unternommen. Karl Otto Paetel hat Schreibverbot. Otto Strasser ist von Klaus Mehnerts Bruder Lars in Klaus’ Opel außer Landes gebracht worden, um einer Verhaftung zu entgehen. Lars ist im Übrigen Parteigenosse und SA-Mann. Und auch der dritte Mehnert-Bruder Frank liebäugelt mit dem Nationalsozialismus: Victor Frank, wieer sich als Bildhauer nennt. Er beteiligt sich zurzeit an einem Wettbewerb für ein SA-Standbild.
Er rechnet sich keine übergroßen Chancen aus, aber allein für die Teilnahme erhält man tausend Mark, und das ist für einen nicht allzu erfolgreichen Künstler viel Geld. Nur deshalb hat sich auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg dazu durchgerungen, dem abgebrannten Freund auf dem leeren Hopfenboden einer verlassenen Bamberger Brauerei Modell zu stehen.
Claus selbst ist kein Nationalsozialist. Er ist ein Stauffenberg: Er kann niemals Untertan eines Kleinbürgers sein. Ohnehin sind Ideologien etwas für mindere Menschen, die solcher Krücken bedürfen. Claus ist aber auch kein Gegner Hitlers. Er wartet ab. Er ist durchaus gespannt. Es ist ja noch gänzlich
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