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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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nicht weiter.
    Er sagt auch nichts. Er lässt sie verstummen. Sie würde jetzt gern seine Wunden verbinden. Sie würde gern dafür sorgen, dass er etwas ruht. Sie würde ihm gern eine Suppe bringen, einen heißen Kaffee: Aber sie kennt ihn ja, ihren Sohn. Harro hasst alles, was nach Einmischung aussieht, nach Bevormundung und mütterlicher Fürsorge. Er hasst es, wenn sie ihn auszufragen versucht. Aber sicherlich hat sie doch ein Recht auf ein wenig Information? Sicherlich hat sie ein Recht auf eine einzige kleine Frage, jetzt, nachdem sie ihm gerade zum zweiten Mal das Leben geschenkt hat? Der Gedanke reißt sie zurück in den Strudel, in den Schrecken der Möglichkeiten, der unabsehbaren Wege, die die Zukunft hätte einschlagen können ohne ihr Eingreifen. Ohne Fräulein Schütts Eingreifen.
    »Ein sehr nettes Mädchen, dieses Fräulein Schütt«, sagt sie.
    Nun ist es gesagt. Nun ist es egal.
    »Sehr gut erzogen«, sagt sie. »So freundlich und warmherzig. Und couragiert. Dass sie mich gleich angerufen hat. Dass sie von einem SA-Lokal zum nächsten gezogen ist.«
    »Ja«, sagt Harro.
    »Ist da denn etwas Näheres, zwischen euch?«
    »Nein«, sagt er.
    Sie wagt ein Letztes.
    »Sie scheint das aber anders zu empfinden. Sie scheint mir sehr, nun, sehr eingenommen von dir.«
    »Mag sein. Wir hatten, nun ja. Was man so hat.« Wieder der rasche Atemzug, der fast ein Schluchzen ist. »Sie ist gern abends in die Redaktionsräume gekommen. Sie fand die Atmosphäre anregend.«
    »Harro? Du wirst nun aber doch davon lassen, nicht wahr? Du wirst nun, ich weiß nicht. Dich ein wenig anpassen. Dich mit dem Gegebenen arrangieren.«
    Er sieht sie an, zieht die Brauen empor.
    »Was meinst du, Mama?«
    Nun weiß sie nicht weiter.
    »Du weißt das ganz genau«, sagt sie. »Du weißt genau, was ich meine. Ich habe es doch immer gesagt. Ich habe es die ganze Zeit geahnt. Ich habe dich angefleht, deine Zeitschrift aufzugeben. Aber nun wirst du dich um Politik nicht mehr kümmern.«
    »Werde ich nicht?«
    Er reckt sich ein wenig in die Höhe, mit einer Art Drehung, wie er es schon als kleiner Junge getan hat.
    »Werde ich mich jetzt um nichts mehr kümmern?«
    Der Wind schleudert eine Handvoll Tropfen gegen die Scheibe, wie kleine Steine. Harro steht auf, geht zum Fenster.
    »Der ›gegner‹ ist allerdings am Ende«, sagt er. »Da hast du recht. Der ›gegner‹ ist verboten, und es ist alles zerschlagen. Da kannst du also völlig beruhigt sein.«
    Sie wendet die Augen vom Anblick seines Rückens.
    »Ich denke, ich werde nun Flieger werden«, sagt Harro. »Diese Sache in Warnemünde, von der Papa sprach.«
    Die Ausbildung an der Deutschen Verkehrsfliegerschule. Sie hält sich zurück. Sie bemüht sich, beherrscht zu sein, die Erleichterung nicht zu zeigen, den Jubel aus der Stimme zu halten.
    »Ja, Kind. Das tu. Tu du am besten, was dein Vater sagt. Werde du ein Flieger.«
    Der Regen hat nachgelassen. Harro steht weiter am Fenster. Sie überlegt, wo sie später essen könnten: bei Lutter & Wegener vielleicht oder sogar in der Traube, hat das Kind nicht etwasBesonderes verdient? Und er hat doch sicher einen gewaltigen Hunger, nach allem, was geschehen ist.
    »Mama«, sagt Harro, ohne sich umzuwenden. »In diesem Keller. In diesen Tagen. Ich habe dort Menschen kennengelernt«, er hebt die Hände, lässt sie wieder sinken. »Menschen, die«, er schüttelt den Kopf. Er wendet sich um, sieht seine Mutter an. »Das werde ich nicht vergessen, Mama.«
    Juhujuiuiuiuuuhu!
    Es ist der Sommer 34. Libs winkt, sie lacht, sie sieht Harros Zähne blitzen. Harro ändert den Kurs, hält direkt auf sie zu, selbst ihn hat sie also betört. Selbst Harro, den Weltverbesserer und Frauenverächter mit seinen Männerfreundschaften, seiner Affinität zu homoerotisch angehauchter Männerbündelei, der bislang Frauen in den Bereich des Hobbys verwiesen hat. Libs strahlt.
    Libs tanzt, sie singt, sie duldet keine Distanz. Sie spielt das Schifferklavier, ein Bein aufgestellt, die Zigarette im Mundwinkel. Sie singt das Lied vom Räuberhauptmann,
    Nimm diesen Ring, und sollte jemand fragen,
    So sollst du sagen, ein Räuber habe ihn getragen,
    Der dich geliebt bei Tag und bei der Nacht –
    Libs ist überall dabei, glühender Mittelpunkt, wo immer sie auftritt. Wie hätte Harro ihr widerstehen können?
    Aber vielleicht war alles ganz anders.
    Vielleicht war es seine Einsamkeit. Vielleicht war es die tiefe Trauer, die ihn überkommen haben muss, als alles zerstört war:

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