Wer wir sind
weiterreicht.
Aber ist es überhaupt klug, ein Buch zu schreiben? Was soll darinstehen? Wird die Führung des Reichsarbeitsdienstes ein ehrliches Buch nicht übelnehmen? Kann Libs ein unehrliches schreiben? Ist es sinnvoll, überhaupt zu schreiben, überhaupt das Auge des Staates auf sich zu lenken, in Anbetracht von Harros Mitarbeit beim ›Wille zum Reich‹?
Es ist im Grunde besser, wenn Libs die Sache sein lässt. Das Thema entspricht ihr eigentlich gar nicht. Libs hat außerdem genug anderes zu tun. Sie hilft Harro bei Übersetzungen für das Amt. Sie tippt einen Artikel über Russland, den Harro für die ›Luftwehr‹ geschrieben hat und der zu seinem Stolz sogar im ›Völkischen Beobachter‹ nachgedruckt wird. Sie versucht sich selbst an einem kleinen Artikel für das ›Reich‹, den Harrofreilich überarbeitet. Und im August fahren Libs und Harro im Auftrag des Auswärtigen Amtes nach Genf zu einer Konferenz über Völkerbundfragen, zusammen mit Klaus Jedzek, Dramaturg am Staatlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und überzeugter Nationalsozialist.
Klaus Jedzek besitzt den Vorzug, ein Auto zu haben. Sie fahren über Frankreich, besuchen Rilkes Turm im Wallis, und vor Rilkes Grab auf dem Burghügel über Raron spricht Harro die berühmten Zeilen:
O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht –
In Genf treffen sie Schweizer, deutsche Emigranten, Franzosen. Die Tage sind rauschhaft, elektrisierend. Überall wird erregt diskutiert. Überall fragt man sie um ihre Meinung, die drei jungen Deutschen aus dem merkwürdigen Reich jenseits der Grenze, sie diskutieren über den Völkerbund, den Vertrag von Versailles, Deutschland, Frankreich, die Sowjetunion.
Sie treffen alte Freunde von Libs und diskutieren über die Wirkungen kosmischer Strahlung, die aphrodisierenden Effekte von Ingwer, die Idee der reinen Abstraktion, die Rolle weiblicher Schönheit in der proletarischen Kunst der Sowjetunion und die einzig richtige Art, Weinbergschnecken zuzubereiten. Sie sitzen in Salons und in Ateliers, auf Sofas, Stühlen, Hockern, in Cafés und Versammlungshallen, Libertas spricht Schweizerdeutsch, zur allgemeinen Begeisterung. In einem Lokal leiht sie sich von einem Musiker das Schifferklavier,
An einem Bach, in einem tiefen Tale
da saß ein Mädchen an dem Wasserfalle
das Mädchen war so schön wie Milch und Blut
sie war von Herzen einem Räuberhauptmann gut.
Armes Mädchen, du dauerst meiner Seele
dieweil ich muss in meine Räuberhöhle –
»Harro. Mein geliebter Harro. Wie ganz ich dir gehöre. Ich kann nicht mehr ohne dich leben, keinen einzigen Tag lang.«
»Nein, Libs. So geht das nicht.«
Sie starrt ihn an.
»Ich kann solche Abhängigkeiten nicht ertragen. Wie soll ich ein kämpferisches Leben führen, wenn du mich so belastest? Verstehe bitte, ich brauche kein Klammerweibchen, sondern einen Kameraden, einen Bundesgenossen. Und den glaubte ich in dir gefunden zu haben. Wenn du mit mir leben willst, musst du dich darauf einstellen, nicht nur einen Tag, sondern möglicherweise eine lange Zeit ohne mich auskommen zu müssen.«
Sie nickt. Sie sagt: »Du musst keine Angst haben, Harro. Ich werde deine Arbeit nicht behindern. Ich werde dich unterstützen, das weißt du doch. Ich werde kein Klammeräffchen sein.«
Im Jahr darauf heiraten sie. Harros Mutter hat darauf bestanden: Die wilde Ehe des Sohnes ist in ihren Augen unannehmbar. Am Sonntag, dem 26. Juli 1936, werden Libs und Harro in der Schlosskapelle von Liebenberg getraut. Onkel Büdi hat Libs zur Hochzeit einige schöne Möbelstücke aus dem Schloss geschenkt: ein Büfett, einen Schreibtisch, einen Esstisch und zwölf Mahagonistühle, zwölf große, grünlich schimmernde Weinkelche. Harros Mutter hat das Leinen der Tisch- und Bettwäsche mit einem zarten Monogramm bestickt: SB . Schulze-Boysen. Gerade noch rechtzeitig zu seiner Hochzeit hat der Gefreite der Reserve Harro Schulze es durchgesetzt, dass er ganz offiziell seinem Namen den Mädchennamen der Mutter anhängen darf. Die Hochzeitsreise führt sie nach Schweden zuden Hasselrots, wo Harro als Kind seine Sommer verbracht hat, und zu Libertas’ älterer Schwester Ottora, die seit letztem Jahr mit dem schwedischen Adeligen Carl Douglas verheiratet ist.
Nach ihrer Rückkehr tritt Libs aus der Partei aus. Zusammen mit Harro verfasst sie ein offizielles Schreiben: Nun, da sie geheiratet habe, gedenke sie ganz in ihrer Aufgabe als nationalsozialistische Frau
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