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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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nicht einmal gefürchtet, dass es tatsächlich so viele Juden gibt. Es hat mich sehr niedergedrückt. In zweieinhalb Stunden nur zwei Fräuleins und ein Kutscher, die nicht jüdisch aussahen.
    »Alle zwölf Hohenemser-Kinder! Alle miteinander getauft, konfirmiert, kirchlich getraut. Und wenn wir einmal sterben, werden wir christlich beerdigt.«
    Worum geht es nur? Was soll die Aufregung? Es scheinen aber alle Bescheid zu wissen: alle außer Elisabeth, die allein dasteht inmitten ihrer Familie. Onkel Moritz lacht auf.
    »Getauft. Na und? Sei bitte vernünftig, Paul. So ein paar kirchliche Wasserspritzer waschen doch den Juden nicht ab. Nicht einmal Blut schafft das, das musst du begreifen. Nicht einmal, dass Fritz sein Leben gegeben hat.«
    Elisabeth steht ganz still. Sie regt sich nicht. Das ist wichtig. Es ist enorm wichtig, sich jetzt nicht zu bewegen. Elisabeth ist nicht mehr aus Fleisch und Blut. Sie ist aus einem ganz dünnen Stoff. Aus einem spröden Stoff, aus hauchdünnem Eis vielleicht, das bei der geringsten Regung zerspringen wird,
    Natürlich war schon unser Vater getauft.
    Natürlich sind wir alle getauft. Alle zwölf Hohenemser-Kinder –
    Es ist zu spät. Der Stein hat getroffen. Risse durchziehen das Eis. Risse sprengen die Hülle, alles bricht auseinander,
    Fritz’ Blut!
    Der Vater. Der Onkel meint Elisabeths Vater. Die furchtbare Beleidigung meint Elisabeths Vater. Nun kann sich Elisabeth nicht mehr bewegen, selbst wenn sie es wollte. Alles ist erstarrt. Onkel, Tanten, Neffen, Nichten, Basen, Vettern: Die Welt ist geronnen, sie hat sich zu einem Holzschnitt verfestigt, dann kippt sie. Die Welt steht auf dem Kopf, stolpert in die Ausgangsposition zurück, Elisabeth ist übel. Sie muss sich übergeben. Sie spürt, wie es ihr in die Kehle steigt, sie schluckt krampfhaft,
    Das könnte euch so passen!
    Elisabeth wird sich nicht übergeben. Elisabeth wird den Teufel tun. Ihr ist jetzt heiß, glühend heiß. Das ist der Zorn. Der Zorn hält Elisabeth zusammen. Er schmilzt das zersprungene Glas zu einem harten, dicken Klumpen: Man hat Elisabethbelogen. Man hat ihr verschwiegen, wer sie ist. Die Familie in Meiningen hat das getan. Die Eckolds. Die verdammten Eckolds. Die beschissenen Eckolds. Die verlogenen Eckolds. Die verlogenen Eckolds und die jüdischen Hohenemsers: Das also ist Elisabeths Familie.
    Das sind ihre Familien: Sie sind ja nicht miteinander vereinbar. Das heißt, Elisabeth ist nicht mit sich vereinbar. Sie ist Teil zweier verschiedener Zeichnungen. Sie ist die unglückliche Figur an der Kante, die auf jedem Bild nur halb vorhanden ist, Elisabeth muss jetzt eine Entscheidung treffen. Sie würde sich sträuben, mit Händen und Füßen, wenn es einen Sinn hätte. Sie sträubt sich. Es hat aber keinen Sinn. Elisabeth muss jetzt entscheiden, wer sie ist und zu wem sie gehört. Sie muss es allein entscheiden, bevor sie mit irgendjemandem gesprochen hat. Bevor man ihr die Entscheidung abnimmt. Bevor eine fremde Hand Elisabeth ohne ihre Einwilligung von einem Blatt wegradiert und sie in das andere Blatt hineinstrichelt, nachlässig, unvollkommen, an irgendeiner Stelle, von der Elisabeth dann niemals wieder fortkommt, Elisabeth muss jetzt entscheiden, wo sie steht.
    Sie hat es schon entschieden.
    Mit vierundzwanzig zieht Elisabeth Hohenemser nach Berlin. Sie besucht die Grafikklasse von Ernst Böhm an den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst in Berlin Charlottenburg, wo Kurt Schumacher Meisterschüler bei Ludwig Gies ist. Kurt mit seinen Faunsohren, seinem Faunslächeln: Er ist ein Jahr jünger als Elisabeth. Er geht einen geraden Weg. Er tut das wirklich. Er beweist es ihr: An einem Winterabend, als er Elisabeth nach Hause bringt, flankt er über eine Absperrung, klettert über ein Fahrrad, marschiert geradewegs über ein Auto weg, die Abdrücke seiner Stiefel imfrischgefallenen Schnee auf der Kühlerhaube hinterlassend, es ist dieser Abend, an dem sie einander das erste Mal küssen.
    1934 heiraten sie. Der Kommunist Kurt Schumacher und der jüdische Mischling ersten Grades Elisabeth Hohenemser, die aufgrund ihrer Abstammung bei der Reichsstelle für Arbeitsschutz als Grafikerin nicht fest angestellt werden darf: Erst nachdem sie beide zu Reichsfeinden erklärt worden sind, erheben sie offiziell Anspruch darauf, im bürgerlichen Sinn als Paar anerkannt zu werden. Eigentlich halten die Schumachers nichts von der Ehe. Sie halten nichts von sexueller Zwangsmoral, bürgerlicher

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