Wer wir sind
Kleinfamilie und der Ausweitung des kapitalistischen Besitzdenkens auf den Partner. Sie glauben an die Prinzipien der freien Liebe, genauso wie die Mehrzahl ihrer Freunde.
Oda Schottmüller hat eine Platte aufgelegt. Yoruba-Trommler. Ein seltenes Sammlerstück. Es ist der 5. Mai 1936. Oda ist gerade eingezogen: Reichsstraße 106, Berlin-Charlottenburg. Fünfter Stock. Der Raum ist noch leer. Er ist ein Versprechen. Das Grammophon immerhin steht schon. Oda macht ein paar Schritte in den Raum hinein, wie zur Probe. Sie nimmt die Arme hoch, tanzt auf der Diagonale, in Wechsel- und Seitwärtsschritten wie ein Fechter, stampft auf, den Kopf zurückgeworfen, ein Krieger, dies ist ihr Raum. Keiner wird ihr dies streitig machen. Der Tanz gewinnt Gestalt. Der Kriegstanz. Tanz der Amazonen? Triumphritt einer Hexe auf ihrem Besen, durch den leeren Nachthimmel? Oda war nie glücklicher.
Oda Schottmüller, einunddreißig Jahre alt: Sie kann nun arbeiten. Sie kann nun losgehen und ihre Sachen holen, aus dem alten Atelier an den Vereinigen Staatsschulen, das sie mit Fritz Cremer und Kurt Schumacher geteilt hat. Sie wird ihr Bett hier aufstellen, ihre Regale, ihre Arbeitstische. Sie wirdmodellieren, Masken bauen, Kostüme nähen, sie wird tanzen, tanzen, tanzen in dem weiten lichtdurchspülten Dachraum, der sich über Berlin erhebt wie eine Kapitänsbrücke über die See. Und fehlt ihr jetzt Kurt?
Wäre sie froh, wenn Kurt mit ihr in diesen Raum einziehen würde? Wünschte sie, dass er nicht mit Elisabeth verheiratet wäre, von der Oda letztes Jahr noch gar nichts gewusst hat? Oda hat nicht gewusst, dass Kurt verheiratet ist. Und wenn sie es gewusst hätte, hätte das etwas geändert?
Dann wäre es doch besser, dass Oda unwissend gewesen ist. Oda kann sich nicht ungeschehen wünschen, was zwischen ihr und Kurt geschehen ist. Oda, die Papatochter: Auch ihr schon lange verstorbener Vater hieß Kurt. Und ist das ein Zeichen? Wofür? Die Dinge sind eine Kette. So viel ist klar.
Ein Glied greift ins andere. Die Kette wird geschmiedet von der Magie der richtigen Zeitpunkte. Was, wenn Oda im letzten Frühling nicht Fritz Cremer getroffen hätte, wenn sie ihn nicht begleitet hätte in das Atelier, das er mit Kurt teilte? Oda stand damals auf der Straße.
Sie stand auf dem Kurfürstendamm, mit einen großen Strauß gelber Mimosen in der Hand. Sie hatte die Blumen aus Trotz gekauft, gerade weil sie nicht einmal mehr eine Blumenvase ihr Eigen nannte. Sie hatte soeben ihr Atelier verloren. Sie wusste nicht, wohin. Fritz Cremer lud sie ein, erst einmal in sein Atelier in den Vereinigten Staatsschulen mitzukommen. Und da stand Kurt Schumacher.
Fritz war Meisterschüler bei Gerstel. Kurt war Meisterschüler bei Gies. Oda stellte ihre Mimosen in ein Marmeladenglas. Sie holte ihre Sachen von der Tante ab: ihr Bettzeug, ihre Modellierstäbchen, und dann begannen sie die Arbeit. Sie standen füreinander Modell. Sie berieten einander, sie kochten Kaffee. Sie empfingen den steten Strom der Besucher, sieschimpften auf Hitler, legten Geld für Wurstbrote und Bohneneintopf zusammen, tranken Rotwein und rauchten, bis der Qualm in Schwaden in der Luft stand.
Oda in ihrem neuen Atelier streckt sich.
Die Yoruba-Trommler sind verstummt. Oda streckt die Arme nach den Seiten aus. Der offene Raum umschließt sie, sanft und spürbar, wie Wasser. Er ist ein Becken, durch das Oda schwimmt, ganz in ihrem Element, Oda schlägt mit den Armen. Sie wirbelt in einem Wirbel, strudelt im Strudel, wälzt sich durch die Wogen der Stille wie ein Wal. Sie ist nun allein.
Die Ateliergemeinschaft ist aufgelöst. Fritz Cremer steht im Begriff, nach Rom zu ziehen, und Kurt Schumacher hat sich ein eigenes Atelier gebaut, in seinem Kleingarten in der Papestraße. Er hat das Atelier in den Staatsschulen geräumt, aus Protest gegen die Einschränkungen und Schikanen, denen sein Lehrer Ludwig Gies durch die Nazis ausgesetzt ist: Und wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, einen Künstler zu schikanieren?
Wie kann man ihm die Zeit rauben, die er zum Arbeiten braucht? Zum Fertigstellen des Ganzen: Denn es geht ja nicht um etwas Einzelnes. Es geht um das gesamte Werk, das sich in sich selbst einrollt, wie eine Spirale, wie ein Farnblatt, bereit, sich jedem einzelnen Zuschauer neu zu entfalten. Das ganze Werk ist ein Tanz, den man an einem bestimmten Punkt im Raum beginnt. Und wenn der letzte Ton verklungen, der letzte Schritt getan ist, hat man den Ausgangspunkt wieder
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