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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Zigaretten.
    »Aber die Toten sind nicht umsonst gestorben. Denk an Horst Wessel. Der hat mit seinem Tod mehr zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen, als er es lebend je vermocht hätte. Und genauso sind die Opfer der Arbeiterschaft und der geistigen Kräfte nicht umsonst gewesen.«
    Harro raucht, dann hält er die Zigarette Libs hin. Er sagt: »Ein Opfer, das für ein Unternehmen erbracht wird, dessen Aussichtslosigkeit von vornherein feststeht, kann überhaupt von der Geschichte niemals ausgelöscht werden.«
    Libs stimmt selig zu. Sie hat sich Harro sofort ergeben. Sie hat ihm keinerlei Widerstand entgegengesetzt, nicht einmal das nur taktische Widerstreben, dessen Motiv die Sehnsucht nach Vergrößerung der eigenen Niederlage ist. Der Sommer geht zu Ende. Der Herbst beginnt, der Winter.
    Harro geht ins Reichsluftfahrtministerium. Er bringt schwedische, englische, französische Blätter mit nach Hause. Er lernt Russisch. Er nimmt als einer von zehn Deutschen auf Kosten des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an der Sommerschule des Weltverbandes für Völkerbundfragen in Genf teil. Er beginnt wieder zu schreiben, für eine Zeitschrift namens ›Wille zum Reich‹ , die eine freie germanische Gläubigkeit propagiert. Religiöse Fragen interessieren Harro nicht sonderlich, aber ein paar alte Bekannte aus dem ›gegner‹-Kreis machen bei der Zeitschrift mit. Es ist eine reizvolle Herausforderung, sich in hintergründigen und doppeldeutigen Wendungen über das System zu äußern, unter Pseudonym natürlich und mit der gebotenen Vorsicht. Libs tippt manchmal einen Artikel für Harro.
    Sie würde gern selbst etwas schreiben, aber ihr fällt nichts Rechtes ein. Es ist im Grunde langweilig, über einem Blatt Papier zu brüten. Die Ergebnisse sind so belanglos, vor allem, wenn sie ihre Versuche mit denen Harros vergleicht.
    Libs meldet sich freiwillig zum Arbeitsdienst.
    Und wird Harro sie zurückhalten? Wird er andeuten, dass er es lieber sähe, sie bliebe bei ihm in Berlin?
    Harro wird den Teufel tun. Harro hält niemals jemanden von irgendetwas zurück. Er beglückwünscht Libs zu ihrer Entscheidung: Es wird sicher eine Erfahrung für Libs, und Harro ist immer für Erfahrungen. Auch hat sich der Jungdeutsche Orden von jeher für den Arbeitsdienst starkgemacht: Der freiwillige Arbeitsdienst integriert die Elite in die Arbeiterschaft, er bündelt die Kräfte des Proletariats und der Elite in einer proletarisch-intellektuellen Gemeinschaft. So sieht es Harro, der für sich selbst allerdings auf die großartigen Möglichkeiten des Arbeitsdienstes verzichtet hat. Aber Libs wird nun bis Juli 1935 in Glindow bei Werder an der Havel auf einem Hof schuften.
    Und vielleicht wird sie ja tatsächlich eine Erfahrung machen. Vielleicht wird sich etwas ereignen, über das zu berichten sich lohnt. Libs wird endlich zu schreiben beginnen, sie wird endlich Stoff für ein Buch haben. Vielleicht wird Libs das Entstehen einer klassenübergreifenden Gemeinschaft erleben, das organische Zusammenwirken aller Einzelnen über alle Schranken der Weltanschauungen und Konfessionen hinweg, im Dienst am großen Ganzen?
    Der Tag beginnt mit Frühsport, gefolgt von kalten Waschungen, Fahnendienst, gemeinsamem Singen. So weit ist es wie bei den Pfadfindern. Die anderen Mädchen sind nett. Libs kommt gut mit ihnen zurecht. Ihren Außendienst leistet Libs auf einem kleinen Bauernhof ab.
    Libs muss fegen und Böden schrubben, Wäsche waschen und die Kaninchen versorgen. Die Bäuerin ist krank, die Stimmung ist trist. Die Arbeit ist eintönig und schmutzig. Die Bäuerin jammert, das Kind heult und hat die Nase voll grünem Schnodder, Libs ist voll Mitleid und Widerwillen. Zum Abendessen versammeln sich die Mädchen wieder im Lager. Es gibt dünnen Kakao, vom Frühstück übrig gebliebene Semmeln mit Margarine. Danach kommen die Vorträge: Der nationalsozialistische Katechismus will heruntergebetet werden, Abend für Abend. Bei den anschließenden Tanzereien gibt es nicht etwa Tango, Walzer oder Fox, sondern Volkstanz, es ist im Grunde alles kleinkariert und schäbig.
    Libs hat Heimweh. Sie vermisst Liebenberg, ihre Mutter, die Freunde. Sie vermisst Harro. Immerhin kommt er sie am Wochenende besuchen.
    Immerhin wird sie über ihre Erfahrungen schreiben können: Das war ja im Grunde der Sinn der Sache, im Juli 1935 ist Libs wieder in Berlin. Sie verfasst ein Exposé, das Harro an Ernst von Salomon im Rowohlt-Verlag

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