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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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erreicht. Am Ende ist man wieder dort angekommen, wo man losgelaufen ist: Aber zuvor hat man den ganzen Raum durchmessen. Den gesamten zur Verfügung stehenden Raum, in seiner Weite und Länge: Man hat ihn für sich erschritten, ihn für sich erobert. Man hat seine Form, seine Fülle, seinen Mangel, seine Enge und Weite in alle Richtungen begriffen. Man hat dieGestalt sichtbar gemacht, die ihn bestimmt, die Grenzen, die ihm Kontur geben und die ihn vom Unumschriebenen in einen Raum verwandeln, durch den nun ein jeder schreiten kann, der Lust dazu hat: Und wenn man so weit ist, ist man fertig. Dann kann man gehen. Dann hat man alles zum Abschluss gebracht. Aber wie lange braucht man?
    Wie lange hat man?
    Die Eile treibt Oda. Der Zeitmangel: Sie muss vorankommen. Sie muss arbeiten, arbeiten, die verlorenen Jahre einholen, die Zeit zurückholen, die man ihr abgerungen hat. Oda hat spät angefangen. Wenn man den Eingang in den eigenen Raum nicht findet, wenn niemand den Königsweg weist, sondern im Gegenteil auch noch die mühsam entdeckten Schleichpfade vermint werden, irrt man Jahre an seinen Außengrenzen entlang. Immerhin hat die Nationalgalerie Odas ›Mädchenakt mit Tuch‹ erstanden. Oda muss sich nun um die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer bewerben. Sie hätte es längst tun sollen. Sie hat das Formular schon abgeholt,
    Beantworten Sie zur weiteren Bearbeitung Ihres Antrags folgende Fragen: 1) Haben Sie eine Büste des Führers Adolf Hitler gestaltet? 2) Haben Sie eine Büste einer weiteren Persönlichkeit des politischen Lebens gestaltet? 3) Von wem? Für wen?
    Die Zulassung als Solotänzerin bei der Reichstheaterkammer besitzt Oda bereits. Sie hat letzten Monat ihren zweiten großen Auftritt gehabt. Die Kritiken waren im Ganzen recht erfreulich, und nicht nur die offiziellen in der Fachpresse.
    »Ach Oda«, hat Elisabeth gesagt. »Dein ›Erdwächter‹. Die Kraft darin. Wie schön das war. Diese Vorstellung, dass es einen gibt, der die Erde bewahrt.«
    Und ist Oda Elisabeth überhaupt gewachsen? Kann sie weiterdas Haupt hochtragen, im Angesicht von Elisabeths großmütiger Güte, ihrer Nachsicht? Elisabeth ist ganz anders als Oda. Sie hat etwas Frauliches, Mütterlich-Weiches. Sie wirkt, als sollte sie Linsen verlesen oder eine Wiege schaukeln, in weltvergessener Versunkenheit wie die Frauen auf den Gemälden Vermeers. Elisabeth und Kurt haben 1934 geheiratet, gerade noch rechtzeitig, im letzten Moment vor dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze. Schon 1935 wäre eine Eheschließung zwischen dem Arier Kurt Schumacher und dem Mischling ersten Grades Elisabeth Hohenemser nur noch mit einer Sondergenehmigung möglich gewesen, die aber so gut wie niemals erteilt wird. Dann wäre Kurt unverheiratet gewesen, als er Oda kennengelernt hat: Und wäre Oda darüber froh?
    Allein der Gedanke erschreckt sie.
    Allein die Vorstellung, dass Odas Wünsche Oda in solch eine Richtung führen könnten, treibt Oda von sich selbst fort: Und was dann? Wen hat Oda denn, außer eben Oda? Wo sollte Oda hin, wenn das einzige verlässliche Gegenüber wegfiele, das sie bis jetzt gefunden hat, nämlich Oda selbst? Oda glaubt nicht, dass sie durch einen einzigen Tag käme ohne das leise, vertraute Gespräch, das Oda ständig mit Oda führt.
    Allerdings ist es die Frage, wie viel Verlass auf Oda selbst ist. Es ist die Frage, wie viel Verlass darauf ist, dass man sich selbst immer rechtzeitig ertappt. Wie lange kann man sich bewahren? Wie lange kann man widerstehen, bevor das Unrecht sich durch Gewöhnung einschleift? Wie lange kann man bei Verstand bleiben, wenn überall Unrecht als Recht hingestellt wird, wenn Entrechtung und Unterdrückung Freiheit genannt werden, Güte Verrat und Unmenschlichkeit höchste Tugend? Die Zeit hat ja ihren eigenen Sog.
    Oda erinnert sich gut an eine Welt ohne Rassengesetze. Sie erinnert sich an die Welt vor Hitlers Machtergreifung, die erstdrei Jahre her ist. Und wo werden sie in weiteren drei Jahren stehen, im Sommer 1939? Wer wird Oda dann sein? Es könnte womöglich dazu kommen, dass man selbst Schreckliches anrichtet, mit den besten Absichten. Womöglich könnte man überzeugt sein, weiterhin das Richtige zu tun, während man sich in Wirklichkeit längst abhanden gekommen wäre. Und woran lässt sich dergleichen messen? Wenn die Gesetze nicht dazu taugen, wenigstens eigenes Unrecht zweifelsfrei zu erkennen: Welchen Maßstab könnte man dann anlegen?
    Vielleicht ist deshalb der ›Erdwächter‹

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