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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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über die Berliner Dächer nach Osten. Das Haus ist ein Schiff, das die Stadt durchpflügt, und Oda ist der Kapitän auf der Brücke, Oda wendet sich vom Fenster ab. Sie betrachtet ihr Atelier. Es ist leer. Ein Leben der Entdeckungen wartet auf Oda.
    Eine Welt voll weißer Flecke, ein unvermessenes Land. Oda kann schemenhaft seine Bewohner ausmachen. Sie winken ihr, laden sie ein, näher zu kommen. Sie sind alt und jung, hellund dunkel. Sie sinken hin und erstehen neu, nur um wieder hinzusinken und erneut zu erstehen. Die Gestalten der anderen Welt: Sie locken und schweben, humpeln und schwanken. Oda erkennt diese Wesen. Sie weiß, wo sie herkommen: aus demselben Grund, aus dem der ›Erdwächter‹ stammt.
    Und ist Libs nun zur Ruhe gekommen? Hat sie in ihrer Ehe mit Harro die Geborgenheit gefunden, die ihr als Mädchen gefehlt hat? Harro fährt nach List auf Sylt zu einem Lehrgang. Libs macht Urlaub an der Nordsee. Sie trifft die Mutter in München, um mit ihr ein paar Tage Skifahren zu gehen, sie fährt nach England und besucht Freunde. Sie fährt mit einem Frachter ins Schwarze Meer, allein mit achtundzwanzig Seeleuten, während Harro eine Nierenkolik hat, die Reise widert sie ab dem ersten Tag an.
    Was tut sie überhaupt hier? Was will sie unter den fremden Kerlen? Sie langweilt sich, sie hat Heimweh. Sie will ein Buch schreiben. Sie will etwas erleben, worüber man ein Buch schreiben könnte, sie will eine Erfahrung machen. Sie zählt die Tage bis zu ihrer Heimkehr. Aber sie bricht nicht ab. Sie fährt eisern bis Jalta. Sie wird nicht weich werden: Er wird es schließlich auch nicht. Er bittet sie nicht darum, zurückzukehren: Die Entfernung, die Trennung wird ihre Liebe nicht zerbrechen. Das sagt Harro immer wieder. Er meint, es sei der Alltag, der eine Liebe zerfrisst. Das Schlimmste ist der Trott, das Sattsein im gegenseitigen Besitz. Er hat sicher recht. Sie sind einander sehr nah, wenn sie getrennt sind.
    Sie sind ganz voneinander durchdrungen, wenn ihre Sehnsucht sie miteinander vereint. Harro bemerkt Libs, wenn sie fort ist, während ihre Anwesenheit ihm im Alltag das Selbstverständliche ist.Es ist das Jahr 1938. Es ist eine Sommernacht, weichgrau und sanft wie ein Angorapullover. Der Wind riecht nach dem Wasser der Großen Lanke. Das Feuer ist schon weit niedergebrannt. Im Schein der Glut sind ihre Gesichter gerade noch auszumachen: Harros aufleuchtende Augen, Elisabeths Wange. Kurt Schumachers Faunsohren. Libertas’ Knie. Sie hat die Beine angezogen. Sie sitzt zwischen Günther Weisenborn und ihrem Harro. Sie umschlingt ihre Beine mit den Armen.
    »Komm, Günther«, sagt sie. »Erzähle uns etwas. Erzähl irgendwas. Irgendeine Abenteuergeschichte.«
    Sie sind gerade mit dem Essen fertig geworden. Marta und Elfriede haben die Teller eingesammelt. Günther hat Wasser vom See geholt, um sie einzuweichen. Natürlich hätten sie auch ganz bequem oben im Schloss wohnen können. Libertas und Harro sind gleich nach der Ankunft hinübergegangen, um Mama und Onkel Büdi schöne Pfingsten zu wünschen. Der Onkel hat ihnen noch einmal das Seehaus angeboten, das hübsche Schlösschen direkt am Ufer der Großen Lanke, Harro hat aber abgelehnt.
    »Wir müssen mal wieder richtig hinaus«, hat er gesagt. »Mal wieder richtig im Freien sein, mit Luft, Wasser und Erde.«
    Die anderen haben zugestimmt. Sie haben die Zelte an einer Stelle aufgeschlagen, wo das Ufer weich zum See hin abfällt. Das Seehaus ist von hier nicht zu sehen. Jetzt in der Dunkelheit, am Rande des Waldes, fühlt es sich nicht an, als wären sie im berühmten Liebenberger Landschaftspark, gestaltet von Peter Joseph Lenné. Es ist, als wären sie in der Wildnis. Als wären sie ein Grüppchen Jäger und Sammler, das hier für eine Nacht eine Rast einlegt, ein letztes unbelehrbares Trüpplein Wildbeuter, von Ackerbauern und Viehzüchtern, von Kain und von Abel gleichermaßen an die äußersten Ränder der bewohnbaren Welt gedrängt.
    Kurt hat den Kopf in Elisabeths Schoß gelegt. Er ist froh. Die Medaillons mit plastischen Stadtansichten aus den Jahren 1650 und 1688, die er geschaffen hat, sind am Geländer der Schleusenbrücke angebracht worden. Die Brücke überspannt den westlichen Spreearm an der Spreeinsel und verbindet so den Werderschen Markt mit dem Schlossplatz. Kurt kann über die Brücke gehen und seine Medaillons betrachten.
    Er kann gemütlich schlendern, stehenbleiben, seine Arbeit überprüfen: Niemand würde ihn erkennen. Niemand würde

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