Wer wir sind
zu Oda gekommen. Oda wusste sofort, wer er war. Er war in den ersten Schritten, in einer Haltung der Arme, der Schultern, die Schritte kommen immer zuerst. Dann erst kommt der Name. Das Vorhandene zeigt sich. Dann muss man herausfinden, was man gesehen hat: wem die Maske gehört, die weitausgreifenden Schritte, die weitausholenden, umarmenden Gesten. Der ›Erdwächter‹ duldet keine Niedrigkeit, keine Niedertracht. Ernst und unaufhörlich ist er um den Schutz der Erde bemüht, der Wächter einer Ordnung, die unumstößlich ist, weil sie in der Welt selbst gründet. Der ›Erdwächter‹ wird dafür sorgen, dass Oda nichts von sich verliert, dass sie sich nicht selbst achtlos am Wegrand zurücklässt. Oda geht zum Fenster und öffnet es.
Draußen flimmert der Frühsommertag. Hinter ihr vibriert der Raum voller Möglichkeiten. Von irgendwo schallt die Musik einer Kapelle herein. Kein Nazigetrommel, nicht diesen Sommer: Die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele haben das Stammestamtam vorläufig erstickt. Man scheint doch noch über einen Rest von Schamgefühl zu verfügen. Über einen Rest von Wirklichkeitssinn: Immerhin ahnt man, auswärtige Besucher könnten auf SS-Gegröle und Judenhetze womöglich nicht begeistert, sondern angewidert reagieren. Aber wenn man das ahnt, warum macht man dann weiter? Warumerschrickt man nicht vor sich selbst? Wie erträgt man es, zu sich selbst quer zu stehen, wie ein Gauner oder ein Mörder?
Oda hat sich ihrerseits ihr Krümelchen vom Olympischen Kuchen gesichert. Sie wird in den szenischen Aufführungen des Händel-Oratoriums ›Herakles‹ mitwirken, einem Teil des offiziellen Rahmenprogramms, mit dem das Reich sich der Welt als Kulturnation andient. Sie wird zusammen mit Abordnungen der SA und Jugendgruppen der NS-Frauenschaft ordentlich in Reih und Glied schreiten, mehr wird ihr künstlerisch nicht abverlangt. Aber die Gage allein für die Proben beläuft sich auf 125 Reichsmark, was die Ateliersmiete sichert. Oda braucht das Atelier. Sie braucht ihre Freiheit.
Sie braucht ihren inneren Raum. Sie will ihren Hexen und Dämonen Masken erschaffen, sie will ihren ›Erdwächter‹ tanzen, ihren Engel der Empörung und die Irrende Seele. Sicher, die Ebene dieser irrealen Figuren steht schief zur sogenannten wirklichen Welt: der Welt der Aufwartefrauen, Arbeitslosen, Aufsichtsräte und anderer zweckverhafteter Existenzen. Aber das muss ja so sein. Wie sonst könnten die Erhellungen, die jene andere Welt zu bieten hat, zurück in die Büroräume der Aufsichtsräte, die Besenkammern der Aufwartefrauen reflektieren? Wie sonst sollte es nützlich sein, was Oda zu bieten hat, ohne dass sie selbst sich einlassen muss auf die Welt der Nützlichkeiten?
Das sagt sie zu Kurt.
Sie weiß, was Kurt dazu sagt.
Sie kann seine Worte hören, wie in einer ihrer vielen Debatten. Kurt will vor allem politisch wirken. Er besteht darauf, dass Kunst und Politik zwei Seiten derselben Medaille sind.
»Denk an Veit Stoß. Den haben sie mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt. Denk an Jerg Ratgeb, der im Bauernkrieg bei lebendigem Leib von vier Pferden auseinandergerissenwurde. Denk an Tilman Riemenschneider, dem sie in der Folter die Hände gebrochen haben. Sie wurden alle drei vergessen, genau wie es geplant war. Aber am Ende haben sie sich durchgesetzt. Zwingend haben sie sich durchgesetzt, gegen eine hasserfüllte Obrigkeit, gegen das von oben verordnete Vergessen, und warum? Gerade weil sie sich mitten in ihre Zeit hineingestellt haben. Weil sie ihrer Zeit nicht ausgewichen sind. Ein Künstler muss doch die Formen eines Werks selbst erschaffen, in sich erschaffen, also muss er erst einmal sich selbst formen. Er kann nicht ausweichen ins Belanglose, sonst wird auch sein Werk belanglos sein. Er selbst wird am Ende belanglos gewesen sein, und wozu dann alles? Wozu unter allen Umständen am Leben bleiben, wenn das Leben belanglos ist? Wirkmächtig kann doch nur ein Kunstwerk sein, für das der Künstler zu sterben bereit ist.«
Das Wort hing im Raum. Oda spürte eine unwiderstehliche Lachlust. Sicher, irgendwann würde man wohl sterben müssen. Aber konnte man nicht vorher noch eine heiße Schokolade kochen? Blieb nicht genug Zeit, um eine blaue Weintraube über Kurts Mund baumeln zu lassen und sie jedes Mal wegzuziehen, wenn er versuchte, die Beeren mit den Lippen zu schnappen?
Oda am Fenster reibt sich die nackten Arme, über die der Wind einen angenehm-unangenehmen Schauer jagt.
Sie sieht
Weitere Kostenlose Bücher