Wer wir sind
ihn für einen Künstler halten. Kurt Schumacher sieht wie ein Handwerker aus, auch wenn ihm bereits als Student die Prämie des Großen Staatspreises der Akademie der Künste verliehen worden ist. Elisabeth streicht ihm über das glatte Haar, das kräftige Gesicht.
Sie erfühlt seine Züge, in der Dunkelheit. Sie genießt die warme Müdigkeit, die Schwere in den Armen und Beinen. Sie ist den ganzen Nachmittag mit den anderen geschwommen. Sie sind gerudert, in dem alten Kahn, der drüben vor dem Seehaus am Steg angebunden liegt. Aber das ist es nicht, was so wohlig müde macht. Es ist auch nicht der Rotwein aus dem Liebenberger Schlosskeller, den Libertas mit zum See hinunter gebracht hat. Es ist das Abfallen der Spannung.
Es ist, als ob man in Berlin, im Alltag von Berlin tagein, tagaus in ein enges Korsett geschnürt wäre, und wenn man es hier endlich einmal ablegen kann, sackt man in sich zusammen. Hier am Ufer der Großen Lanke ist es, als gäbe es die Nazis gar nicht. Hier gibt es keine Aufmärsche, keine Propaganda, kein Gegröle im Marschtritt, nicht das Hetzen der Redner, das Grollen der Menge und das ununterbrochene Gebrüll der Plakate. Hier kann man die Rüstung abwerfen, die Waffen niederlegen. Hier kann man, für diese paar Pfingsttage, seine Stadttore öffnen, die Bemannung von den äußeren Wällen holen.
Libertas streckt ihre Beine aus.
»Komm schon«, sagt sie. »Ziere dich nicht, Günther. Erzähl uns von New York, oder von Südamerika.«
Günther lacht leise. Er legt den Arm um Libs’ Schultern, zieht sie einen Moment an sich, lässt sie wieder los.
»Ja, unbedingt«, murmelt Kurt aus den Tiefen von Elisabeths Rock. »Am besten die Geschichte vom toten Indianer.«
Alle lachen. Günther lehnt sich gegen Libertas. Sie legt den Kopf an seine Schulter. Angeblich erteilt er ihr Unterricht. Angeblich schreiben sie zusammen ein Hörspiel. Angeblich lernt Libs bei ihm, wie man Drehbücher produziert. Und zu welchem Film wohl? Die Anziehung zwischen ihnen ist ein sprühendes Band. Elfriede Paul sieht zu Harro hinüber.
Sein Gesicht ist heiter, gelassen. Er ist erst vor ein paar Tagen bei Elfriede in ihrer Wilmersdorfer Praxis gewesen. Seine Nieren, wie immer. Er hat Glück, dass er heute überhaupt mit nach Liebenberg fahren konnte. Natürlich sieht man ihm seine Schwäche nicht an. Niemand würde glauben, dass der Fliegeroffizier Harro Schulze-Boysen ein chronisches Nierenleiden hat.
»Du musst mehr auf dich achten, Harro«, hat Elfriede nach der Untersuchung gesagt. »Das mit deinen Nieren ist nicht so einfach vom Tisch zu wischen. Du musst eventuell an einen Krankenhausaufenthalt denken, oder an eine Kur.«
Aber Harro hat natürlich abgewehrt.
Elfriede sieht Libertas an. Libs lächelt zu Harro hin. Aber den Körper hat sie zu Günther gewandt.
»Ich weiß, es ist vielen unverständlich, wie ich meine Ehe handhabe«, hat Harro zu Elfriede gesagt. »Aber kann man denn Liebe einfordern, per Verordnung? Wohl kaum. Und ich hätte auch keinen Spaß daran. Ich denke, ich bin Mann genug, mir meine Frau immer wieder neu erringen zu wollen.«
Elfriede hat zugestimmt. Natürlich schließen Liebe und Besitzansprüche einander aus: Elfriede selbst lebt schließlich mit Walter Küchenmeister zusammen. Sie hat einen steinigen Weg hinter sich. Die Ärztin Elfriede Paul kommt aus einer Arbeiterfamilie. Sie hat sich das Studium bitter erkämpfen müssen. Sie war schon sechsunddreißig, als sie endlich die eigene Praxis eröffnen konnte. Und dann trat Walter in ihr einsames Leben. Elfriede hat sich in ihn verliebt. Walter ist verheiratet und hat zwei Söhne. Aber er war sofort bereit, seine Familie zu verlassen. Elfriedes Leben in Wilmersdorf sagt ihm weit mehr zu als seine alte Existenz im Wedding: Die Wohnung, die Möbel entsprechen seinem Geschmack, die Atmosphäre ist angenehm, und er hat nun endlich Muße zu schreiben. Walter Küchenmeister ist nämlich ein Dichter. Er hat ebenso wie Harro für die Zeitschrift ›Wille zum Reich‹ geschrieben, die aber inzwischen verboten ist. Er ist Kommunist, aber die KPD hat ihn schon vor vielen Jahren ausgeschlossen. Früher hat ihn seine schöne junge Frau ernährt, die jeden Morgen in die Fabrik geht. Nun ernährt ihn Elfriede. Walter ist so begabt. Aber er findet einfach keine Verdienstmöglichkeit.
»Los, Günther, komm schon«, sagt Libertas. »Mach uns die Freude. Wir wollen alle den toten Indianer.«
»Die Geschichte kenne ich«, sagt Marta.
Sie ist
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