Wer wir sind
blond, kühl, der nordische Typ. Sie ist heute zum ersten Mal dabei. Günther hat sie mitgebracht. Er kennt sie von früher, von einem Filmprojekt mit Bertolt Brecht. Libs lacht auf.
»Natürlich«, sagt sie zu Marta. »Jeder kennt doch diese Geschichte. Jeder kennt Günthers toten Indianer.«
»Es war am Rio Paraná«, sagt Günther zu Marta. »Es war 1930. Ich war damals Postreiter in Argentinien.«
Und das ist wahr. Günther war wirklich Postreiter in Argentinien.Er war wirklich Journalist in New York. Aber letztes Jahr ist er nach Deutschland zurückgekehrt, im vierten Jahr nach der Machtübernahme.
Er hat es in Amerika nicht mehr ausgehalten. Er war heilfroh, wieder zu Hause zu sein, in Berlin, bei seinen Freunden.
»Damals lernte ich Pedro kennen«, sagt Günther, mit der Stimme, die er immer hat, wenn er von Südamerika erzählt. »Ich hatte ein Zimmer in Rosario gemietet. Es war eine ziemlich üble Absteige über einer Hafenspelunke, aus der die ganze Nacht lang der Tango heraufklang. Pedro war einer der Gauchos von der Estancia Linda.«
Elfriede hört Günthers Stimme kommen und gehen, wie in Wellen. Sie schließt die Augen, lauscht dem Wind in den Kronen der Bäume, natürlich ist auch Liebenberg nicht das Paradies. Es ist keine losgelöste Insel der Seligen, auf der man die wirkliche Welt vergisst, nicht einmal für ein Pfingstwochenende. Harro hat den üblichen Stoß ausländischer Zeitungen aus dem Reichsluftfahrtministerium mitgebracht: schwedische, englische, französische Blätter.
»Nichts ist bis jetzt endgültig entschieden«, hat Harro gesagt. »Ich halte eine Massenerhebung des Volkes nach wie vor für denkbar. Ich bin sogar davon überzeugt. Wenn es Krieg gibt, wird es zur Revolution kommen. Und dann werden wir uns an die Spitze der revolutionären Kräfte setzen.«
Libs und Marta haben sich nicht an dem Gespräch beteiligt. Die beiden Schönen: Sie haben ein wenig abseits gelegen und ihre nackten Brüste der Sonne entgegengereckt, darum wetteifernd, wer die tiefere nahtlose Bräune mit nach Berlin zurückbringt. Marta ist erst letzte Woche aus der Haft entlassen worden. Ihr Freund ist Kommunist. Marta hat ihn und seinen Vater monatelang vor der Gestapo versteckt, dann sind sie aufgeflogen. Die beiden Männer sitzen noch immer im KZ Sachsenhausen.Günther hat das erzählt, als er angefragt hat, ob er Marta mit nach Liebenberg bringen könnte. Marta selbst hat kein Wort über ihre Gefangenschaft verloren. Es hat sie auch keiner darauf angesprochen. Manche Fragen verbieten sich, wenn man nicht sehr, sehr gut miteinander bekannt ist,
Erzähl doch mal, Marta, wie war es im KZ ?
Marta hat still in der Frühsommersonne gelegen, nackt und reglos und mit geschlossenen Augen. Günther hat immer wieder zu Libs hinübergesehen. Und ist das der Unterschied? Legt sich Marta in die Sonne, weil sie die Wärme genießt, und Libs, damit man ihr dabei zusieht, auf welch wunderbare Weise sie bräunt? Was nicht etwa heißen soll, dass Elfriede Libs nicht mag. Das ist ja ganz undenkbar. Jeder mag Libs. Libs ist das Küken: Sie ist dreizehn Jahre jünger als Elfriede, neun Jahre jünger als Elisabeth Schumacher. Sie ist ein Wirbelwind, lebhaft, jung, unbedingt liebenswürdig. Sie und Harro sind ein blendendes Paar: gutaussehend, gebildet, von der weltgewandten Selbstsicherheit jener, die es gewohnt sind, sich in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zu bewegen. Manchmal denkt Elfriede bei sich, dass Libs eine ganz dumme Pute ist.
Manchmal beneidet sie sie glühend. Manchmal denkt sie, dass es nur natürlich ist, wenn Libs mit ihren Reizen nicht geizt. Vielleicht ist es eine wilde Großzügigkeit. Vielleicht bringt Libs es nicht übers Herz, die Überfülle für sich zu behalten, sie nicht zu verschwenden. Oder vielleicht hat man Libs allzu zeitig gezeigt, worum es bei einer Frau ausschließlich geht.
Dann wäre Libs’ ständiger Einsatz ihrer Reize eine Art Bitte. Die kindliche Bitte, das Geschenk anzunehmen, ihr etwas dafür zurückzugeben, für dieses Einzige, was sie zu bieten hat: sich selbst, ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit. Güntherhat Libs heute Nachmittag ein Rindenschiffchen gebastelt, ein kleines Boot aus Borke. Libs hat Günther umarmt. Sie lässt keine Chance aus, Günther zu umarmen.
»Ein Rindenschiffchen! Solche haben wir gemacht, als ich klein war.«
Libs hat es vorsichtig auf den See gesetzt, der klar ist, dunkel und torfig. Wohin segelt man, mit einem solchen Boot? Mit
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